Wolfgang Riedel Monument der Sattelzeit. Goethes Faust und das moderne Wissen* Literaturwissenschaftler sind Literaturvermittler, jedenfalls und unbedingt bei Gelegenheiten wie der heutigen. Die folgenden Ausführungen verstehen sich daher als Einladung, sich einmal wieder auf Goethe und sein Hauptwerk Faust einzulassen, sei es durch Lektüre oder Theaterbesuch, Hörbuch oder DVD. Denn literarische Klassiker, so könnte man sie auch definieren, sind ›unbekannte Meisterwerke‹; man kennt sie – und kennt sie doch nicht. Und vom Faust kennt, wer ihn kennt, in der Regel nur den ersten Teil, den zweiten jedoch meist gar nicht. Nun kann man einen Text wie diesen in zwanzig Minuten nicht annähernd erschöpfend behandeln. Vieles bleibt daher ausgespart, Zentrales wie die ›Wette‹, ganze Handlungszüge wie die Liebesdramen (Gretchen, Helena), bekannte Paradestücke wie ›Osterspaziergang‹ und Walpurgisnacht. Anlassgemäß liegt der Fokus vielmehr auf Wissen(-schaft) und Technik, einem Motivkreis des Fauststoffes, der schon für Goethe selbst einen Problemkern bildete, der ihn ebenso faszinierte wie irritierte. Der Faust war für Goethe eine schwere Geburt; sechzig Jahre – mit Unterbrechungen – arbeitete er daran, von 1772 bis 1832. Historiker bezeichnen diese Jahrzehnte gerne als die »Sattelzeit«, also die Gründungs- und Entstehungsphase der Moderne. In ihr fanden nicht nur schwerwiegende politische Umbrüche statt (die amerikanische und die Französische Revolution, das Ende des Alten Reiches, auch die von Goethe noch erlebte Julirevolution), es war dies auch die Durchbruchszeit vieler moderner Wissenschaften: Psychologie, Neurologie und Psychiatrie veränderten um 1800 die Wissenschaften vom Menschen, Geologie und Paläontologie unser Bild von der Erde, vor allem von der Erdgeschichte, die überlieferte Alchimie wandelte sich zur modernen Chemie, die Elektrizität begann erforscht zu werden, und auch die Lebenswissenschaften starteten, unter dem damals geprägten Begriff »Biologie« (Burdach, Treviranus, Lamarck), ihren bis heute währenden Siegeszug. Mit alledem sind diese Jahrzehnte daher auch als die Konstitutionsphase eines modernen Weltgefühls und damit verbundenen menschlichen Selbstbildes anzusehen. All dies hat Goethe miterlebt, ja er war als aktiver und brieflich weithin vernetzter Naturforscher teilweise aus erster Nähe involviert, und – er spürte, ausgestattet mit der seismographischen Sensibilität des Dichters, schon früh die möglichen Beben, die von diesen Umbrüchen ausgehen und seine – die alteuropäische – Herkunftswelt in den Grundfesten erschüttern mussten. ›Durchgearbeitet‹ hat er all dies im Faust, als Tragödie in zwei Teilen, einem, ja vielleicht sogar dem Drama (Tragödie, Komödie?) der Sattelzeit par excellence. Im Druck erschien es nur nach und nach, zögernd, mit großen Abständen: 1808 der erste Teil, 1832, im Jahr von Goethes Tod, der zweite. Schon Teil eins verbindet das genretypische, aus dem »bürgerlichen Trauerspiel« der Zeit übernommene Liebesmotiv (›Gretchentragödie‹) mit dem der Fausttradition zugehörigen Motivkomplex der Wissenschaften, ist also zugleich eine ›Gelehrtentragödie‹. Faust wird eingeführt als ein frustrierter Forscher; weder die akademischen Wissenschaften noch die esoterischen, die Magie, haben ihm die Geheimnisse der Natur, den innersten Zusammenhang der Dinge, entschlüsselt. Er schwört daher dem Weg der Erkenntnis, des Geistes, ab und begibt sich auf den Weg der Sinnlichkeit, des leidenschaftlichen Empfindens und Wollens. Da – natürlich – läuft ihm der Teufel über den Weg, »Mephisto«. Mit seinen schwarzmagischen Künsten dient er Faust als ›Wunscherfüller‹; was dieser will, schafft er herbei, ähnlich den »Helferfiguren« der Märchen. Allerdings ist er auch ein großer Trugbildner und Sinnentäuscher; am Nasenband der HexenHIllusionen (Auerbachs Keller, 2313ff.; II/1, 6546), Wunschidole (Hexenküche, 2429ff., 2603f., ›Helena-Spiegel‹), »Phantasmagorien« (so Goethe über II/3; HA 3, 435) und kollektiven Einbildungen (II/4, 10734ff.), also der teufelstheologisch so genannten »praestigiae«, wird er fortan Faust durch das Geschehen ziehen. Als erstes will dieser den Sturm des großen Gefühls erleben, sich einmal richtig verlieben, in ein blutjunges Mädchen, und zwar sofort; die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ist Mephistos Sache. Und der kennt keine Skrupel. Das junge Ding wird mit Geschenken weichgekocht, die Mutter mit einem Schlafmittel ausgeschaltet; an der Dosierung freilich wird nach Teufelsart nicht gespart, sie stirbt daran. Gretchens Bruder will die Ehre der Familie mit der Waffe retten, doch Fausts Klinge wird unsichtbar von Mephisto geführt, er fällt. Das Mädchen wird schwanger, in ihrer Verzweiflung tötet sie das Kind und kommt vors Hochgericht. Fausts Liebeswunsch wird erfüllt, doch sein Glück ist teuer bezahlt – ›Leichen pflastern seinen Weg‹. Selbst die Liebe, das an sich Gute und Schöne, wird dergestalt, durch Mephistos Hilfe und ›Vermittlung‹ (im Sinne Hegels), vergiftet. Faust und Mephisto bilden ein gleichsam systemisches Paar, wie Zweck und Mittel, Herr und Knecht: Beide sind voneinander nicht zu isolieren, es gibt den einen nicht ohne den anderen. Insofern ist Mephisto Fausts ›Schatten‹, seine dunkle Seite, die er eigentlich gar nicht sein möchte. Aber das Gute, das er will, erreicht er nur um den Preis erheblicher Kollateralschäden, die er nicht gewollt hat, die aber Mephisto zuverlässig immer wieder eintreten lässt – »Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen« (Hegel). Diesen inneren Zusammenhang von Gut und Böse, das unauflösbare Sich-Durchdringen und Verwachsen-Sein von bonum und malum bringt Goethe hier zu ernüchternder Darstellung. Genau dies unterscheidet seinen Faust von der Urfassung des Stoffes, der lutheranischen Historia von D[oktor] Johann Fausten aus dem Jahr 1587. Es war dies eine Warnparabel vom bestraften Sünder, erzählt auf der theologischen Grundlage eines scharfen Dualismus von Gut und Böse: Hier Gott als Pol des reinen Guten, dort der Teufel als Pol des absolut Schlechten, dazwischen der Mensch, der sich für eines von beiden entscheiden muss. Der lutherische Faust entscheidet sich, indem er sich der schwarzen Magie zuwendet, für den Teufel (ihren Ursprung), also gegen Gott, und endet – kann nur enden! – in ewiger Höllenpein. Diese Theologie besitzt für Goethe keine Gültigkeit mehr. Er war, nach neuplatonischen Anfängen, seit den 1780er Jahren ein Anhänger Spinozas, und hier sieht alles anders aus: Deus seu natura, Gott ist Natur (und umgekehrt). Für ein solches Identitätsdenken ist schon die tradierte alttestamentarische Schöpfungsvorstellung nicht mehr plausibel, und bereits der junge Goethe hing stattdessen dem Gedanken einer permanenten Selbstschöpfung der Gottnatur an: »Ich mochte mir wohl eine Gottheit vorstellen, die sich von Ewigkeit her selbst produziert« (Dichtung und Wahrheit, 1811/12, 8. Buch, HA 9, 351). In diesem Denken ist denn auch kein Platz mehr für eine strikte Scheidung von Gott als Ort der Vollkommenheit (summum bonum) und Welt als Ort des ewig Mangelhaften (malum). Für Goethe gilt vielmehr die Aufhebung dieses Gegensatzes: »Der Begriff vom Dasein [Welt, Natur] und der der Vollkommenheit [Gott] ist ein und derselbe« (Studie nach Spinoza, 1784/85, HA 13, 7). Eine Erzählung wie die Historia ist unter solchen geistigen Voraussetzungen obsolet. Goethe baut sie daher völlig um. Dies beginnt schon im Prolog im Himmel. Nach theologischer Tradition befinden wir uns hier eigentlich im transzendenten Raum der Herrlichkeit Gottes. Diese wird denn auch von den drei Erzengeln des Prologs mit Inbrunst gepriesen – aber auch comme il faut? Denn was preisen sie: Nicht den überirdischen Glanz der Trinität, sondern ausschließlich die »Werke« der Schöpfung selbst, die Ordnung und Schönheit (»Pracht«) der der kosmologischen wie tellurischen Natur sowie die vier Elemente (243ff.), also die diesseitige Natur der antiken Philosophie und der modernen Wissenschaft! Und dies ergibt einen – wenn auch unorthodoxen – theologischen Sinn nur auf identitätsphilosophischer Basis, bei Annahme des Deus seu natura. Auch Mephisto nimmt in diesem System eine andere Funktionsstelle ein, nicht mehr als Gottes absoluter Widersacher, sondern als sein Werkzeug, sein Agent. Buchstäblich mit Gottes Segen, im Auftrag des »Herrn«, handelt er hier, wenn er Faust verführt: »Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab, / und führ’ ihn […] / Auf deinem Wege mit herab« (324f.). Später wird er sich Faust bekanntlich vorstellen als »der Geist, der stets verneint« (1306), also als die Kraft, die alles Entstandene, ›Geschaffene‹, wieder zerstört (»denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht«, 1307f.). Er präsentiert sich so als das genaue Komplement zu jenem anderen Geist, den Faust zu Beginn des Dramas, noch bevor er Mephisto begegnete, hatte bannen wollen, aber, Gipfel seiner Frustration, nicht konnte, zum »Erdgeist« also. Dieser vertrat das polare Gegenprinzip, die permanente Produktivität der Natur: »In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall’ ich auf und ab, / Webe hin und her! / […] / So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid« (501ff.). Wie der Erdgeist als Geist des Schaffens, wirkt Mephisto als Geist der »Zerstörung« (1311). In dieser Komplementarität verselbständigen sich in ihnen zwei an sich zusammengehörige Partialaspekte jener einen Gott-Natur, deren unendliche ›Selbstproduktion‹ ja gleichzeitig ein Prozess fortwährender Destruktion ist, und dies in allen Dimensionen, kosmologisch, erdgeschichtlich, biologisch. (Übrigens bewegt sich Goethe damit ganz auf der Höhe der damaligen spekulativen Philosophie; bei Hölderlin heißt diese ›ontotheologische Ambivalenz‹ »das Aorgische«, bei Hegel Prinzip der »Negativität« oder permanente »Negation« als Wesensmoment des natürlichen und geschichtlichen Werdeprozesses.) Man erkennt an diesem Beispiel leicht Status und Funktion des metaphysischen Personals in diesem Weltgedicht – Herr, Erdgeist, Mephisto und weitere, auf die wir noch zurückkommen. Es sind Allegorien, mit Goethe besser »Symbole«, traumhaft-gleitende Verkörperungen und Personifizierungen, wechselnde humanoide Masken der an sich gerade nicht personhaft zu fassenden, anonymen Gottnatur und ihrer Facetten. »Sehr ernste Scherze« nannte Goethe in einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 15. März 1832, seinem letzten Brief überhaupt, das poetische Verfahren im Faust (HAB 4, 481). Keine Formel könnte seine sehr freie, im Sinne von Schillers Ästhetik ›spielende‹ Poetisierung des Metaphysisch-Religiösen und der ›letzten Dinge‹ in diesem Drama besser fassen. Wir kommen damit zum Faust II. Was geschieht hier, immer aus dem Blickwinkel unserer Fragestellung? Zunächst einmal wechselt Faust die soziale Sphäre; aus den einfachen Verhältnissen des ›kleinen‹ Bürgertums in die ›große‹ Welt des Kaiserhofs. Man mag an den frühneuzeitlichen Kaiserhof, etwa eines Maximilian I. oder II., denken, doch solche historischen Reminiszenzen sind nicht entscheidend; es geht hier recht modern – im Sinne der ›Sattelzeit‹ – zu. Faust in kaiserlichen Diensten also, die er erfüllt mit Hilfe Mephistos. Der Hof ist bankrott, braucht dringend Geld. Woher nehmen? Mephisto weiß Rat – er erfindet das Papiergeld (II/1, 4925ff., 6057ff.). Tatsächlich ist das Papiergeld in Europa (Spanien, England) eine Erfindung der Frühen Neuzeit; im Deutschen Reich wurden 1705 in Köln erstmals »banco zettel« ausgegeben, 1713 wurden sie durch das Reichskammergericht sanktioniert. Mephisto weiß aber auch um das Problem dieser Währung, ihre Deckung. Fausts »Zettel« zu »tausend Kronen« (6058), mit denen der Kaiser seine Schulden und Außenstände bezahlt, sind vorderhand nicht gedeckt. Doch Mephisto weiß wieder Rat: Dem Kaiser gehöre doch letztlich aller Grund und Boden, und der stecke doch voller Bodenschätze, die müssten nur gehoben werden, dann wäre jede Deckung da (4929ff., 6111ff.). Aber dazu müsste zuerst Arbeit investiert werden, und das erfordert zunächst einmal Zeit. Woher kommt also nach Mephisto das in der Gegenwart benötigte Geld: aus der Zukunft, wie wir es noch heute aus der Kreditwirtschaft gewöhnt sind. Nun ist also der Hof wieder liquide und sorgenfrei, nun will er wieder unterhalten werden. Man möchte die griechischen Helden sehen, möglichst leibhaftig, und am liebsten das herrlichste – und (Kollateralschäden!) heikelste – Liebespaar des Altertums, Paris und Helena. Die bildliche Darstellung antiker Götter und Heroen war ja seit der Renaissance an europäischen Fürstenhöfen gang und gäbe, doch die statischen Künste der Malerei und Skulptur genügen diesem Hof nun nicht mehr, er verlangt nach bewegten Bildern, ›lebendiger‹ Vergegenwärtigung (»Des Lebens Bilder«, I/1, 6430). Faust/Mephisto erfüllt diesen Wunsch mit Hilfe einer um 1800 aktuellen Illusionstechnik, der Laterna magica (6421ff.), die dann im 19. Jahrhundert zu einem regelrechten Massenmedium wurde. Gebraucht werden eine bemalte Glasscheibe, dahinter eine Lichtquelle und davor eine Projektionsfläche, und zwar am besten keine Wand oder Leinwand, sondern, um den gewünschten Eindruck von Bewegtheit hervorzurufen, Bühnennebel, also eine Wolke aus weißem Rauch (»dunstiger Nebel«, 6440; »Weihrauchsdampf«, 6473), der die projizierten Bilder ›mobilisiert‹. Technisch wie ›wunschgeschichtlich‹ gehört die Laterna magica zur Vorschichte des um 1900 aufkommenden Kinos. Mit verblüffender Treffsicherheit antizipiert Goethe in den Machinationen Mephistos und Fausts (der allerdings selbst am heftigsten auf diesen Illusionismus hereinfällt), was das Jahrhundert, in das er hineinblickt, bis zu seinem Ende alles bringen wird. Dito zwei Akte später, als die Papiergeldblase platzt und der Staatsbankrott erneut bevorsteht, soziale und politische Unruhen aufkommen und ein Gegenkaiser sich erhebt (Anspielungen auf Zeitgenössisches, die Französische Revolution und Napoleon). Es kommt zum Krieg, die überlegenen Aufständischen können nur mit Fausts, das heißt, Mephistos Hilfe besiegt werden. Und dieser setzt gegen sie nichts Geringeres als die elementaren Naturkräfte selbst ein. Zum einen in märchenhaft-personifizierter Gestalt als drei Riesen mit gigantischen Kräften, zum andern aber auch als nackte Naturgewalten selbst: Enorme »Wasserfluten« überspülen die feindlichen Heere und verwüsten das Land, Blitze und andere unheimliche Lichtphänomene gehen auf die Gegner nieder, gewaltige Lärmkulissen (das hieß schon nach damaligem Wissen: dröhnend vibrierende Luftmassen) jagen sie in Angst und Schrecken (II/4, 10423ff., 10725ff.). Man muss es mit der antizipatorischen Kraft dieses Dramas nicht übertreiben, aber die Geschichte der Kriegstechnologie wird diesen Weg gehen. Die Fernartillerie des Ersten Weltkriegs wird, buchstäblich mit Blitz und Donner, die feindlichen Truppen en masse vernichten und dabei ganze Landstriche, bis tief in die Erdoberfläche hinein, verheeren. Der Krieg des 20. Jahrhunderts wird die Elemente selbst zum Einsatz bringen, von den Kampfgasen des Ersten bis zu den Atomwaffen des Zweiten Weltkriegs. Goethe hat das alles nicht ahnen können, aber offenbar doch gespürt, welche Entwicklungsreichweiten in der zu seiner Zeit anhebenden Technik und Wissenschaft (Elektrizität etwa war ja ein großes Thema) steckten, welche möglichen Latenzen in ihr schlummerten. Soweit Faust im Dienst des Kaisers. Doch was will er in Teil II in eigener Sache? Hier wäre zunächst und vor allem die Wiederaufnahme des Liebeswunsches zu nennen, die Helena-Handlung (II/2 und II/3), die aber wie gesagt ausgespart sein soll; wir bleiben bei Wissenschaft und Technik. Und hier ist das fraglos spektakulärste Motiv die Erschaffung eines künstlichen Menschen durch Fausts einstigen Famulus Wagner. Im zweiten Akt tritt dieser »Homunculus« auf, als kleines Männlein in einer Glasphiole (6819ff.). Goethe nimmt hier zum einen alchemistisches Gedankengut auf (künstliche Erzeugung von Leben durch ›animalculistische Putrefaction‹, Kultivierung von – in der protobiologischen Präformationslehre um 1700 angenommenen – ›Samentierchen‹ durch Fäulnisprozesse), dies aber im Bewusstsein, dass es sich hierbei um veraltetes Wissen handelt. Er bezieht sich daher zugleich auf allerneueste Erkenntnisse, und zwar – Sätze wie »Das lassen wir kristallisieren« (6860) legen die Spur – auf die soeben, 1827, von Friedrich Wöhler erfolgreich durchgeführte künstliche Harnstoffsynthese, mit der erstmals – und welche Horizonte mussten sich mit dieser Nachricht damals für die Beteiligten auftun! – die »Bildung einer organischen Substanz aus unorganischen Stoffen« (Wöhler) gelang. Heute sehen wir darin die Geburtsstunde der organischen Chemie, und wir sehen, was allein bis zum gegenwärtigen Stand der Reproduktionsmedizin daraus geworden ist. Eine bekannte Schriftstellerin hat in diesem Zusammenhang vor zwei Jahren mit dem Ausdruck »Halbwesen« für Empörung gesorgt. Im Faust-Kontext indes passte er perfekt. Homunculus ist ein Halbwesen, nämlich, obwohl vollständig in Gestalt und begabt mit Geist und Sprachvermögen, kein ganzer Mensch. Er kann nur im künstlichen Milieu seiner Glasflasche existieren, und er kann sich nicht reproduzieren. Für Goethe aber ist das Reproduktionsvermögen Definiens und Spezifikum des Lebendigen: »Wir nennen lebendig, was vor unsern Sinnen die Kraft äußert seines gleichen hervorzubringen« (Gesetze der Pflanzenbildung, 1788/90, MA 3.2, 309, nicht in HA). Um also ein vollständiges Lebewesen, ein ganzer Mensch zu werden, übergibt Homunculus in der Klassischen Walpurgisnacht (II/2) sein Schicksal der Natur, nun in Gestalt des Meeres, das hier im Anschluss an den Vorsokratiker Thales als Ursprungsort des Lebens und damit der organischen Produktion angesehen wird (8435f.). Die Produktivkraft des Meeres nimmt wiederum in einer Göttermaske sinnliche Gestalt an, als Meeresnymphe »Galatee« (Galateia). Ein »Bild« der »Mutter« (8386, gemeint ist ›Mutterreihe‹ hinter ihr, ihre Großmutter, die Meergöttin Thetys, und deren Mutter Gaia, Mutter Erde selbst), reist sie auf einem »Muschelwagen« durch die Ozeane, was sie ikonographisch zugleich (siehe Botticellis Geburt der Venus) mit der Liebesgöttin Aphrodite verbindet, in der sich ja die Produktivkraft der Natur, als geschlechtliche Reproduktion, gleichfalls geheiligt sieht. Stimmig also, dass Goethe seinen Homunculus die Phiole, die ihm das Leben ermöglicht und ihn zugleich vom Leben trennt, ausgerechnet an Galatees Muschel »zerschellen« lässt (8472). Bewusst beendet dieser so seine individuelle Existenz, um einzugehen in den immerwährenden Produktionsprozess der Natur, in dessen Verlauf er nach langer Zeit »Durch tausend, abertausend Formen / […] bis zum Menschen« (8325f.) gelangen kann. Der künstliche Mensch begibt sich so, in Erkenntnis seiner selbst und seiner Halbheit, zurück in die Arme der natürlichen Evolution. Noch nicht einer Evolution im genauen Sinne Darwins freilich, aber die Spekulationen der Naturforscher um 1800, auch diejenigen Goethes, zielten doch schon in diese Richtung, und es ist daher kein Zufall, dass Darwin Goethe zu seinen geistigen Ahnen zählte. Die Botschaft der Homunculus-Episode ist jedenfalls klar: Die künstliche Produktion des Menschen kann mit der lebendigen Produktion der Natur nicht konkurrieren. Diese ist, mit einem Ausdruck Kants, für den Menschen »überschwenglich«, eben, so wiederum mit Goethe, ›göttlich‹. Für den Schluss des Dramas (II/5) ist dieses ›naturphilosophische‹ Lehrstück außerordentlich wichtig. Als Lohn für seine Dienste hat Faust vom Kaiser einen großen Küstenstreifen zu Lehen bekommen. Hier will er eine Kolonie gründen, als Lebensgrundlage künftiger, glücklicher Generationen (Goethes Vorbild in Sachen Sozialutopie waren die amerikanischen Siedler). Dazu lässt er – mittels Mephistos und seiner Hilfstruppen – die gesamte Fläche erstens durch Entwässerung, also Kanalbau, urbar machen und zweitens durch Zurückdrängen des Meeres, also Dammbau, vergrößern. Nicht um Kleinigkeiten handelt es sich hier, vielmehr um veritable technische Großprojekte im Stile des 19. Jahrhunderts, vor allem seiner erst noch kommenden Jahrzehnte (Suezkanal 1859-1869, Panamakanal 1881-1914, Assuanstaudamm 1898-1902). Faust sieht sich in diesem unternehmerisch-erobernden Tun und Wollen als Heros der Naturbeherrschung: »Hier möcht’ ich kämpfen, dies möcht’ ich besiegen« (II/4, 10221). Was besiegen? Das »Meer« (10198ff.). Er zieht buchstäblich gegen es zu Felde, das heißt aber, genau gegen die Erscheinungsform der Gott-Natur, die wir in II/2 als ›Schoß des Lebens‹ kennengelernt haben. Will Faust damit nicht vielleicht zu viel? Nämlich, getrieben vom unbedingten ›Ich will‹, das keine Stoppregel kennt (»Des allgewaltigen Willens Kür«, II/5, 11255), und unterstützt vom Wunscherfüller Mephisto, zum »Herrn« der Natur selbst zu werden? Sein letzter Wunsch als der Wunsch zuviel, wie im Märchen Vom Fischer un siner Fru? In der Eingangsszene zum 5. Akt (Offene Gegend) justiert Goethe mit Philemon und Baucis, den alsbaldigen Opfern (Kollateralschaden!) von Fausts Plänen, eine entschieden kritische Perspektive auf diesen ›Kampf wider das Meer‹ (»[…] / Schmälerten des Meeres Rechte, / Herrn an seiner Statt zu sein«, 11093f.) und weckt den Verdacht, dass Faust sich hier schon im Ansatz überhebt. Tatsächlich ist Fausts Auffassung vom Meer, wie er es in den Schlussakten II/4 und II/5 an den Tag legt, eine ganz andere als die der Klassischen Walpurgisnacht, nämlich eine rein mechanistische. Für ihn stellt das Wasser kein Ursprungsmedium des Lebens dar, sondern gehört ganz der toten Masse und Materie zu, wie diese ausgestattet nur mit der Potenz mechanischer Energie: »Unfruchtbar selbst, Unfruchtbarkeit zu spenden; / […] / Da herrschet Well’ auf Welle kraftbegeistet, / Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet« (10213ff.). Man braucht gar nicht so weit zu gehen und sagen, hier lasse sich schon der künftige Wasserkraftingenieur des 19. Jahrhunderts vernehmen (das Niagarakraftwerk entsteht 1886-1895); schon die rein technische, ja technokratische Blickweise dieser Verse spricht deutlich genug. Wie immer man dazu stehen mag, das bis dahin aufgebaute Sinngefüge des Dramas markiert diese Perspektive auf Wasser und Meer als eine deutlich verkürzte. Und vielleicht liegt eben darin, in dieser, wenn man so will, naturtheologischen ›Verkennung‹ des Meeres, der Ignoranz gegenüber dessen möglicher Bedeutung im natur-göttlichen Prozess der ›Selbstproduktion‹ und organischen Reproduktion, Fausts hamartia, der »Fehler«, der nach Aristoteles den Tragödienhelden in den Untergang führt. Ist also diese ›Verkennung‹ Fausts eigentliche, nämlich geistige Blindheit? Und die optische, mit der ihn bald darauf die »Sorge« schlägt (11495ff.), nur deren physischer Nachvollzug und Besiegelung? Für eine Gelehrtentragödie immerhin eine passende, wenn auch besonders bittere Pointe! Nun, hamartia oder nicht, Fausts Ende folgt auf dem Fuße. Jedoch gerade nicht als tragischer Untergang! Faust wird bekanntlich erlöst, jedenfalls bekommt Mephisto seine Seele nicht (11825ff.). Doch was für eine Erlösung liegt hier, in der berühmten Bergschluchten-Szene, vor? Eine streng christliche nicht. Zwar erhält die hier wirkende erlösende Kraft ebenfalls eine göttliche Maske, in Gestalt der »Mater gloriosa« (11997ff.), einer durchaus zeitgeisttypischen Marienanspielung also, bei der man freilich genau hinsehen muss. Goethe mag dabei an Raffaels Sixtinische Madonna gedacht haben, wie neulich von einem bekannten Kunsthistoriker vorgeschlagen, aber eben nicht ausschließlich. Als ikonographisches Trennkriterium wäre die Tatsache anzuführen, dass die »Mater gloriosa« ohne Kind auftritt, an dem als Sohn Gottes, sei es als Jesusknabe wie bei Raffael oder als Leichnam wie in der Pietà, doch erlösungstheologisch wie mariologisch alles hängt. Zugleich wird sie einmal explizit als »Göttin« bezeichnet (»Jungfrau, Mutter, Königin, / Göttin, bleibe gnädig«, 12102). Dies aber kann sie nach christlicher Theologie nicht sein, so dass damit die religionsgeschichtliche Assoziation direkt (»Göttern ebenbürtig«, 12012) auf das antike Pantheon und seine Muttergottheiten gelenkt wird. Freilich sind auch sie für das naturphilosophische, spinozistisch geeichte Denken um 1800 nur Masken des Ungreiflichen, und so auch diese im Sinne der »sehr ernsten Scherze« sehr goethesche heidnisch-christliche ›Mischperson‹ und – anders als bei Raffael – ganz ins Schwebende und Irisierende, Luftige, poetisierte Sakralimago des »Ewig-Weiblichen« (12110). Man hat sich immer wieder gefragt, wo denn hier, in der Schluss- und Erlösungsszene, »Der Herr« aus dem Prolog bleibe. Eine oberflächliche Frage! Denn dieser war ja erstens auch nur Maske und zweitens ist er ja da – nur eben in anderer, seiner weiblichen Gegengestalt, eben als jene »Mater gloriosa« und als die hier in ihr (wie einst im männlichen Gott der Ode Ganymed von 1774) verkörperte Elementarkraft »Liebe« (der Begriff kommt in Bergschluchten vierzehn Mal vor), die das Erlösungsgeschehen verbürgt und letztlich nur das Komplement der gottnatürlichen Schöpferkraft darstellt. Aus orthodoxer Sicht wird man diese Liebe allerdings eine abgründige nennen müssen, denn sie unterscheidet gerade nicht nach ›Gerechten‹ und ›Ungerechten‹, Guten und Bösen. Goethe scheint hier, wie in der Fachliteratur dargetan, der später als ketzerisch verworfenen Erlösungslehre des Kirchenvaters Origenes zu folgen, der Idee der ›Wiederbringung aller Dinge‹ (apokatastatis panton). Danach wird schlechthin jeder, auch der größte Sünder (dieser nur nach erheblich längerer Zeit) erlöst. Verurteilt und verworfen wird hier niemand, die Hölle bleibt leer. Nach Origenes also wäre Faust prinzipiell und gleichsam apriori, nicht anders als sein Opfer Gretchen, »gerettet« (4612) – und der Illusionskünstler und Täuscher Mephisto, der doch zugleich als letzter orthodoxer Theologe des Dramas noch an die Hölle glaubt (11636ff.), ein klassischer ›betrogener Betrüger‹ (siehe 11834f.). Ende gut, alles gut? – Nun, ganz so einfach steht die Sache nicht. Immerhin haben wir es ja laut Untertitel mit einer Tragödie zu tun. Aber das Tragische der Goetheschen Faustdichtung, und darin steckt eine ihrer Hintergründigkeiten, liegt eben nicht im Ende und Tod ihres Helden, nicht in seinem ›Untergang‹, sondern in seinem Leben und Wirken selbst, in seinem (und unserem) Lebensdilemma, dass er, auch wenn er ein noch so Gutes will, unweigerlich das Gegenteil miterzeugt und schlimmste Begleitschäden produziert. Faust, als Individuum, mag durch das versöhnliche Ende ›erlöst‹, sprich dieser Ambivalenz entzogen sein, die von ihm beglückten Menschen sind es nicht, und – wohl kalkulierter rezeptionspsychologischer Aspekt der Sache – wir, die dieses Drama lesen oder betrachten, sind es auch nicht. So liegt noch auf dem denkbar lichten Schluss ein ›indirekter‹ Schatten, und das Doppeldrama trägt, trotz allem Komisch-Komödiantischen darin und trotz aller Goetheschen »Zustimmung zur Welt«, seine Gattungsbezeichnung zurecht. Nicht ohne Grund ist daher Goethes Faust zu einer exemplarischen Symbolfigur geworden, in der sich die Moderne, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, noch in jeder ihrer Phasen wiederkannte. Und gerade weil diese Moderne mit ihrem explosiven Aufwuchs von Wissenschaft und Technik auch die Mittel und Reichweiten, ›Gutes‹ zu wollen, ins Ungeheure wachsen ließ, ist Fausts Dilemma im genauesten Sinne auch unser gegenwärtiges. Uns, das meint beim heutigen Anlass nicht nur uns alle, sondern speziell und in erster Linie die hier versammelten Mitglieder einer wissenschaftlichen Akademie. Wissenschaftler wollen ja das Gute, für den Menschen, seine Gesundheit, seinen Wohlstand, sein Glück, und heute durchaus auch für den Planeten, seine Balancen und seine Lebensformen, aber sie geben uns zugleich, und mit jedem Fortschrittsschritt zuverlässig wieder, eine solide Packung Übel mit auf den Weg, so dass sich in melancholischen Stunden der Gedanke an ein Nullsummenspiel aufdrängen mag. In der täglichen Arbeit blenden Wissenschaftler das aus; sie könnten sonst aufhören mit ihrer Forschung. Teilblindheit zählt nun einmal zu den notwendigen Routinen des Fortschritts. Wo aber ist dann der Ort, an dem jener Goethesche Blick, der nüchterne Blick von außen (um nicht zu sagen, von oben) auf die ambivalente Lage der Akteure im Gedränge des Geschehens seinen Platz und sein Recht hat? Welches ist das (selbst)reflexive Medium, der ›geistige Raum‹, in dem wir diesen Blick lernen, und zugleich lernen, ihn auszuhalten? Es ist, mit dieser Überlegung schließe ich, die Dichtung und Literatur (die große, nicht die der Unterhaltungsgenres). Sie nimmt, wie alle Kunst seit je, und erst recht in der Moderne, ihre Stellung am Rande, außerhalb des Üblichen, der Norm, des Common Sense ein, eine Beobachterposition also, die die Tradition in Begriffen wie »ästhetische Distanz« (nach Schiller) oder »Denkraum der Besonnenheit« (Aby Warburg) gefasst hat. Es ist dies eine Position, die Abstand hält, aber damit auch freie Sicht ermöglicht auf die Kernzonen des Menschendaseins und seine unauflösbare Zweideutigkeit. Und genau darum braucht auch die moderne Wissensgesellschaft den Eigensinn der Poesie und Literatur und brauchen moderne Wissenschaftsakademien wie unsere eben auch Literaturwissenschaftler. Nicht nur, um dieses Erbe zu bewahren, zu erschließen und weiterzugeben, sondern auch, um durch literarische Bildung (das heißt: durch jene ästhetischen Distanz- und Selbstdistanzeffekte) ein Bewusstsein unserer selbst zu erhalten, das den Ambivalenzen des Daseins, gerade in der Moderne, gewachsen ist. Literaturhinweise: Goethe-Ausgaben: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz u.a. 14 Bde. München 1996-2008 (HA); Briefe. Hamburger Ausgabe. Hg. Karl R. Mandelkow u.a. 4 Bde. München 1988 (HAB); Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. Karl Richter u.a. 22 in 34 Bdn. München/Wien 1985-2014 (MA). Bestkommentierte Faust-Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Hg. Albrecht Schöne. 2 Bde. Frankfurt/M. 2005 (Tb.). Das Faustbuch von 1587: Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe. Hg. Stefan Füssel u.a. Stuttgart 2012 (Tb.); dazu jüngst Jan-Dirk Müller: Das Faustbuch in den konfessionellen Konflikten des 16. Jahrhunderts. München 2014. Aus der neueren Faust-Literatur: Karl Eibl: Das monumentale Ich. Wege zu Goethes Faust. Frankfurt/M. 2000; Dieter Borchmeyer: Keine Angst vor Faust. Goethes Hauptwerk als Komödie. In: Faust-Jahrbuch 1 (2004), S. 131-148; Michael Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2011;^ Hans-Jürgen Schings: Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien. Würzburg 2012, 375-456; ders.: Faust und der dritte Schöpfungstag. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88 (2014), 439-467; Hans Belting: Fausts Erlösung. Was hat Raffaels Sixtinische Madonna mit dem Epilog von Goethes berühmtestem Werk zu tun? In: Neue Zürcher Zeitung, 7.11.2015, 53f. Aus der älteren: Walter Müller-Seidel: Komik und Komödie in Goethes Faust (1968). In: ders.: Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800. Stuttgart 1983, 173-188; Herman Meyer: Diese sehr ernsten Scherze. Eine Studie zu Faust II. Heidelberg 1970. ________________________________ * Der Abdruck gibt, bis auf einige kleine Besserungen und Ergänzungen sowie den neuen Titel (ursprünglich: Monument der Moderne: Goethes Faust), das Redemanuskript wieder; mündlicher Duktus und populärwissenschaftlicher Zuschnitt sind beibehalten. Auf Literaturdiskussion und Fußnoten wurde verzichtet, Hinweise auf dankbar Benutztes finden sich am Ende. Faust-Zitate sind mit Verszahl nachgewiesen (bei Faust II auch mit Aktangabe), sonst wird Goethe mit Band- und Seitenzahl nach der Hamburger Ausgabe (HA, HAB) oder der Münchner Ausgabe (MA) zitiert.