http://www.digitalniknihovna.cz/nm/view/uuid:a83effcb-661c-4663-800a-783b9aa45cc2?page=uuid:46c0a44 8-68da-11e9-82a8-001b63bd97ba https://www.moderni-dejiny.cz/clanek/neznama-masarykova-recenze-hitlerovy-knihy-mein-kampf/ S. 3+ 4 Unterschrieb V. S. 30. April 1933 Hitlers Credo (Prager Presse) Eine Besprechung des Hitlerschen Werkes ist gegenwärtig nicht gefahrlos: doch soll der Versuch gemacht werden, den Lesern der „Prager Presse“ eine rein literarische Besprechung des interessanten Buches vorzulegen. Das Buch selbst ist Hitlers Partei- programm und politisch gedacht und geschrieben; jedoch hat Hitler versucht, sein Programm als politischen Ausdruck einer neuen Weltanschauung geschichtsphilosophisch und soziologisch zu begründen, und das ermöglicht ein literarisches Referat und eine Kritik der wichtigsten wissenschaft- lichen Positionen. Hitler selbst betont seine Vorliebe für Geschichte, die er mit Recht als vitae magistra auffaßt. Der erste Band betitelt sich: „Abrechnung“. d. h. die politische Abrechnung mit den politischen und theoretischen Gegnern, der zweite beschreibt die nationalsozialistische Bewegung: diese Einteilung ist nicht streng durchgeführt, denn auch im zweiten Bande sind viele theoretische und allgemein politische Erörterungen, wie z. B. über die Bedeutung der Rede in der Politik gegenüber dem Geschriebenen u. dgl. m. Im ersten Teil wir politische Betrachtungen. Prager Presse. Praha: Orbis, 30.04.1933, 13(119), s. 3. Dostupné také z: http://www.digitalniknihovna.cz/nm/uuid/uuid:46c0a449-68da-11e9-82a8-001b63bd97ba Für das Verständnis der nationalsozialistischen Bewegung und die Machtergreifung der NSDAP ist Hitlers Buch von entscheidender Bedeutung. Wenn, um nur eine Tatsache anzuführen, die europäische Presse über Görings Erklärung erstaunt ist, daß die neue Regierung nicht national, sondern nationalsozialistisch ist. so hat Göring nichts anderes gesagt als was Hitler in seinem Buche ausführt, daß nämlich der alte Staat nur dadurch erneuert werden könne, wenn die neue Regierung die Organisation und das Programm ihrer Partei mit- und hineinbringt. Hitler eröffnet sein Buch mit einer knappen Selbstbiographie. Wir erfahren nichts Neues und bekommen keine psychologische Analyse seines Werdeganges. Von großem Einfluß auf ihn war Schönerer mit seinem alldeutschen Programm und auch Lueger, der Führer der Christlichsozialen. An Lueger lobt er das Praktische, das Schönerer gefehlt habe. Unter dem Praktischen müssen wir in erster Reihe die Fähigkeit der mündlichen rednerischen Propaganda verstehen; diese Propaganda müsse volkstümlich, populär sein. Das Buch selbst ist ein Beispiel dieser Volkstümlichkeit. Der Autor vermeidet allen gelehrten Schuljargon, und so kann man viele Kraftausdrücke über die Gegner, wie Lumpen, Kerle usw. lesen. Mit dieser Volkstümlichkeit verbindet sich das Bestreben, die Programmforderungen und die Grundansichten nicht nur klar, sondern sehr bestimmt und präzis zu formulieren. In dieser Hinsicht könnten viele Parteiführer und Volksmänner von Hitler manches lernen. Das nationalsozialistische Programm ist theoretisch einfach genug. Hitler knüpft an seinen Putschversuch vom 8. November 1923 an; das Buch wird mit einer Widmung an die am 9. November 1923 in München Gefallenen[1] eingeleitet, deren Namen angeführt werden. Die Nationalsozialisten stehen in schroffem Gegensatz gegen die Sozialdemokraten und ihre Weltanschauung, also gegen Marx und den Marxismus; da Marx von Geburt Jude war, so gilt der Kampf den Juden und der Verjudung überhaupt. Die Juden selbst werden in ihrem Volkscharakter und ihrer Politik nach dem bekannten Machwerk „Die Weisen von Zion“ charakterisiert, und Hitler bekennt sich direkt als Antisemit. Die Schulung bei Lueger hat ihre Früchte getragen. Seinen Nationalismus scheidet Hitler sehr bestimmt vom Nationalismus der Bürgerlichen ab; der Marxismus ist in dieser Ablehnung des „Hurra-Patriotismus“ nicht weniger schroff als Hitler, aber der Unterschied liegt in der Begründung: Hitler sieht die Schwäche der Bourgeoisie überhaupt in der Verjudung. Der Nationalsozialismus will praktisch dieser Verjudung steuern und ist darum antisemitisch in so hohem Grade, daß er vor der Vertreibung und allseitigen Schwächung und Bedrückung der Juden nicht zu rückschrecken würde. Hitler knüpft an das Programm des Vorkriegspangermanismus an; die Deutschen müssen sich bewußt werden, daß sie Arier und Germanen sind. Die zusammenfassende Losung des Nationalsozialismus lautet: das Blut, das reine arische Blut ist der deutsche Gral, dieses Blut ist die vis motrix[2] der Geschichte und das zu erstrebende Ideal. Darum ist für Hitler die tiefste Ursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918 die Verkennung des Rassenproblems. Von diesem Gesichtspunkt aus der historische (ökonomische) Materialismus von Marx verworfen; die innere und äußere Politik hat es nicht bloß mit wirtschaftlichen Fragen zu tun; eine neue Weltanschauung auf an Stelle der alten gesetzt werden. Hitler ist für die Demokratie, aber nicht die alte, sondern die neue des Nationalsozialismus. Die alte Demokratie ist parlamentarisch und auf dem Prinzip der Majorität aufgebaut. Der Parlamentarismus aber ist der Tummelplatz der geistigen Nullen und der Beschränktheit. Hitler verwirft das „Parlament an sich“ nicht, aber es kann im natio- nalsozialistischen Staat nur ein beratender Körper sein. Der parlam. Demokratie, deren eigentlicher Drahtzieher der Jude ist, wird die alte germanische Demokratie entgegengesetzt. Diese Demokratie hat die freie Wahl des Führers, der persönlich mit Leben und Gut verantwortlich ist. Es gibt im beratenden Parlament keine Abstimmung von Majoritäten, nur ein Mann führt und entscheidet, das Volk kann zu seinem Führer Vertrauen haben und hat zu gehorchen. Gehorsam ist die Pflicht des Staatsbürgers im neuen Reich, ganz so wie im alten, nur die Führung ist verschieden. Die germanische Demokratie ist darum aristokratisch, monarchisch — Monarchismus als Prinzip, darum auch Absolutismus des Führers — und militärisch, das Heer ist die „eigentliche Schule“. Diese germanische Demokratie läßt keine Parteien auf kommen; die Parteien bedeuten die Zerklüftung des Volkes, während das germanische Ideal die neue allzusammenfassen de Weltanschauung ist. Es kann zugegeben werden, daß hier gewisse Schwächen der parlamentarischen Demokratie und ihres Prinzips der Majorität bloßgelegt werden; jedoch muß die Frage erlaubt sein, warum die Nationalsozialen das Majoritätsprinzip bei den Wahlen anerkannt haben. Die Frage ist umso ernster, als die Masse, wie wir gleich hören werden, von Hitler, im Gegensatz zu Marx, nicht anerkannt wird. Das arische und germanische Deutschtum kann sich nur in einem Nationalstaat ausbilden; darum sollen alle Deutschen Mitteleuropas im neuen Reiche vereint werden; hier kommt besonders der Anschluß Oesterreichs in Betracht. Die Habsburger verachtet Hitler wie vor ihm Schönerer. Obwohl Hitler als Militarist den Pazifismus als Feigheit verpönt und vor dem Kriege nicht zurück schreckt, muß er sich doch gestehen, daß die deutsche militaristische Vergangenheit von über tausend Jahren zwar ein Blutmeer, aber wenig Früchte geschaffen hat. Hitler vermag nur drei Errungenschaften des alten Regimes hervorzuheben: die Kolonisation der Ostmark hauptsächlich von Bajuwaren, die „Erwerbung“ und „Durchdringung“ des Gebietes östlich der Elbe und die von den Hohenzollern durchgeführte Organisation des brandenburgisch-preußischen Staates, der auch in Zukunft Vorbild und Kristallisationskern des neuen Reiches sein soll. Für die äußere Politik widmet Hitler der deutschen Nation das folgende „politische Testament“: Die Deutschen sollen nie das Entstehen zweier Kontinentalmächte in Europa. dulden; an den deutschen Grenzen darf keine zweite Militärmacht organisiert werden, und drittens: die Stärke des deutschen Volkes hat ihre Grundlage nicht in Kolonien, sondern im Boden der Heimat in Europa, denn das heiligste Recht auf dieser Welt sei das Recht auf Erde. Hitler wird ganz pathetisch, wenn er über den heimischen, selbstbebauten Boden spricht; er sieht in dem Blut, das man für diese Erde vergießt, das heiligste Opfer. Die Ausführungen über die Selbstbebauung des heimischen Bodens leiden aber an Unklarheit, denn es handelt sich doch darum, ob der „heimische“ Boden, den das deutsche Volk jetzt und in Zukunft „erworben“ hat, unbewohnt war oder ob an ihm ein anderes Volk ansässig war. Wie war es mit der Germanisation der Elbeslaven, mit der Kolonisation der Ostmark? Ein wichtiges Kapitel des Hitlerschen Buches ist der Ostpolitik gewidmet; Deutschland müsse seine alte Ostlandpolitik wieder ' aufnehmen. Das heißt, die Nationalsozialisten wollen vorläufig den Süden und Westen aufgeben und sich gegen Osten wenden — das Schwert soll den Deutschen den neuen Boden für ihren Pflug geben. Rußland ist von Germanen staatlich organisiert worden; das russische Volk, die Slaven überhaupt, sind eine minderwertige Rasse und darum ist der Osten das Eroberungs- und Arbeitsgebiet der Deutschen. Vorerst wäre wohl Polen und die Ukraine das nächste Angriffsobjekt. Hitler ist ganz entschieden für den Anschluß Oesterreichs an Deutschland; über den Anschluß der übrigen Deutschen, in Elsaß-Lothringen, in der Schweiz, in der Tschechoslovakei usw. finden sich keine bestimmten Pläne, nur wird ab und zu der Zusammenschluß aller Deutschen gefordert. Kon kreter hat Gottfried Feder[3] Hitlers Programm ausgearbeitet; da werden die Deutschen dä nischer, polnischer, tschechoslovakischer, ita lienischer und französischer Staatsangehörig keit für Alldeutschland reklamiert. Es sei vorläufig nur nebenbei bemerkt, daß dieses Programm vom Nationalsozialistischen Verlag in Aussig verbreitet wird. Hitler ist sich bewußt, daß das neue Reich Bundesgenossen für die Verwirklichung der nationalsozialistischen auswärtigen Pläne braucht; er plädiert für enge Gemeinschaft mit Italien und England. Im Italien Mussolinis sieht er den natürlichen Bundesgenossen, weil es gegen Frankreich ist; Frankreich ist für Hitler der Todfeind. England, glaubt Hitler, ist im Grunde auch gegen Frankreich. Es lohnt, die längere Besprechung über das Verhältnis zu Italien aufmerksam zu lesen: spezielles Interesse erweckt die Aufgabe von Südtirol. Diese Politik stimmt schlecht zu dem allgemeinen Programm der Vereinigung aller deutschen Auslandsgebiete; in dieser Beziehung muß auch auf die Aufgabe der Front gegen Westen erinnert werden. Aber Hitler betont sehr energisch, in der äußeren Politik sei Sentimentalität nicht am Platze. Das ist gewiß ein Grundsatz der sog. Realpolitiker; nur muß man fragen, ob ein Politiker, der in der äußeren Politik unsentimental ist, in der inneren Politik sentimental sein wird. Die Erfahrung lehrt, daß der Charakter der Politiker in der äußeren und inneren Politik der gleiche ist. Das ist auch psychologisch begreiflich und wird durch Hitlers Buch bestätigt. Hitler ist nämlich, wie zahlreiche Stellen seines Programmbuches beweisen, auch im Innern nichts weniger als sentimental; den „Lumpen“ und „Verrätern“ vom 8. November 1923 wird erbarmungslos mit dem Tode gedroht; nur an einer Stelle wird den Gegnern zugegeben, daß sie am Ende im tiefsten Grunde ihres Herzens mit gleicher Liebe an ihrem Volke hingen und nur den richtigen Weg verfehlten. Das Verhältnis zu Italien wird wohl hauptsächlich durch die Bewunderung Mussolinis als Diktator bestimmt. Auf die historische Entwickelung des Gegensatzes zwischen Italien und Deutschland geht Hitler nicht ein; trotz seiner Vorliebe für die Geschichte findet man in dem Buche nirgends eine historische Orientierung. Es ist doch fraglich, ob Italien, ob Mussolini selbst, sich nicht daran erinnern werden, daß das deutsche Kaiserreich Jahrhunderte Italien zu beherrschen strebte; auch dürften sich die Italiener an das Programm der alldeutschen Lehrer Hitlers erinnern, wo nach die Deutschen Triest und den Zugang zur Adria beanspruchten. Auch ist hervorzuheben, daß durch den Anschluß Deutschland nicht nur Nachbar von Italien, sondern auch von Jugoslavien würde. Für den politischen Kalkül käme das wohl sehr in Betracht. Ueber das Verhältnis zu England sagt der nationalsozialistische Führer weniger; es mag nur hervorgehoben werden, daß er Lloyd George[4] ganz besonders schätzt. Allein dieser Staatsmann kann heute nicht als Repräsentant Englands gelten, auch von Hitlers Rassenphilosophie aus nicht; ist doch bekannt, daß Lloyd George Kelte (aus Wales) ist und in London jeden Sonntag in der welschen Kirche welsch predigt. Hitlers politische Einstellung ist entschieden allzusehr vereinfacht; er sieht nämlich nur zwei Feinde, Hauptfeinde: Frankreich ist ihm der äußere Todfeind, der Marxismus der innere. Da er aber ausdrücklich den Westen für die nationalsozialistische Politik aufgibt, so bleibt nur der eine Feind, der Marxismus übrig. Da jedoch der Marxismus für Hitler nichts als Judentum bedeutet, so bleibt das eigentliche politische Aktionsprogramm der Antisemitismus. Allein auch dieses Programm läßt Ausnahmen zu, wie die Schonung der Banken in der eintägigen Juden-verfolgung bewiesen hat. (Allerdings waren die Banken vom Staat subventioniert.) Wir werden gegen den Antisemitismus nicht Goethe, Lessing, Herder und alle die deutschen Geisteshelden anführen; noch weniger wollen wir einfach auf — Jesus hinweisen und fragen, wie der Siegeszug seiner Lehre vom antisemitischen Standpunkt erklärt werden möchte; denn der pangermanische Versuch Jesus als Arier zu reklamieren, kann heute nicht ernst genommen werden. Auch wollen wir der Rolle nicht gedenken, die das Alte Testament kulturell im Christentum gespielt hat; das kann man bei Männern wie Kautzsch[5] nachlesen, die über die „bleibende Bedeutung“ des Alten Testamen tes geschrieben haben. Freilich kann an dem Namen: Kautzsch gerüttelt werden, ob er einwandfrei germanisch sei; aber eine solche etymologische Untersuchung möchte freilich nicht nur Lessing, Nietzsche. Treitschke, sondern auch Kant u. a. aus der deutschen Liste streichen. Doch wollen wir das National- und Rassenproblem nicht aufrollen, es genüge der kurze Hinweis darauf. So einfach, wie Hitler es auffaßt, ist es gewiß nicht. Die wissenschaftliche Anthropologie und Ethnographie der heutigen Deutschen bestätigt das nationalsozialistische Programm mit nichten; wenn Hitler die Kolonisation von Ostelbien, wenn er - Union als Hauptgewinn der alten Politik hinstellt, so muß doch daran erinnert werden, daß die heutigen Deutschen östlich von der Elbe und in Brandenburg und Preußen viel slavisches und preußisches Blut in sich haben. Schon der Name Brandenburg und Preußen, sowie Leipzig u. v. a. deutet auf das nichtdeutsche Element hin. Reines Blut gibt es eben in Europa und in der ganzen Welt nirgends. Auch die von Hitler bevorzugten Bayern haben slavisches und keltisches Blut in sich aufgenommen. „Meinem Kampf“ kommt es auf Genauigkeit und Präzision nicht an; Hitler sieht z. B. in Franz Ferdinand den größten Slavenfreund“. Und solche Ungenauigkeiten kommen in „Meinem Kampfe“ sehr viele vor. Aber auch die für das nationalsozialistische Programm wichtigsten prinzipiellen Fragen wurden in „Meinem Kampf“ stiefmütterlich behandelt. Wir finden keine genaue Scheidung von Nation und Staat; der so wichtige Begriff der Nation wird nicht bestimmt, sein Inhalt nicht analysiert. Es mangelt eine Erörterung über die Religion und speziell über die für das deutsche Volk so wichtige Kirchenspaltung. Ganz unklar bleibt, was Hitler am Marxismus auszusetzen hat? daß er nur jüdisch sei, ist gewiß unrichtig, wenn wir uns der wichtigsten Lehrer von Marx erinnern, des Deutschen Feuerbach, des Deutschen Hegel und des Engländers Ricardo. Jedenfalls muß der Theoretiker des Nationalsozialismus die weltgeschichtliche Bedeutung und Entwicklung des Sozialismus erfassen, um seinen Sozialismus begründen zu können. Ganz ungenügend, eigentlich gar nicht, wird das Verhältnis von Rasse und Weltanschau-ung dargestellt. Der Nationalsozialismus will eine neue Weltanschauung sein; da die deutsche Nationalität im Blute zu finden sei, so muß man doch fragen, wie kommt die neue Weltanschauung durch das deutsche, sagen wir: echt deutsche, Blut zu Stande? Diese und alle grundlegenden Fragen werden in „Meinem Kampf“ nicht erörtert. Für ein halbwegs richtiges deutsches Nationalprogramm ist die Bevölkerungsfrage von größter Wichtigkeit. „Mein Kampf“ versagt da gänzlich. Hitler stellt sich eine endgültige, aktive Auseinandersetzung mit Frankreich vor, obwohl wir schon gehört haben, daß der Westen für die Deutschen aufzugeben sei; und wir lesen, daß nach diesem Endkampfe „an anderer Stelle“ die Ausdehnung den Deutschen gegeben sein wird. Diese „andere Stelle“ ist, wie wir schon gehört haben, der Osten. Nach kaum hundert Jahren, denkt Hitler, wird es 250 Millionen Deutsche geben, nicht nur das deutsche, sondern das das europäische Problem wird endgültig gelöst sein. Diese Bevölkerungspolitik ist im Lichte der Tatsachen abenteuerlich. Selbst so nationale Historiker, wie Franz Braun und Hillen Zieg- feld („Weltgeschichte im Aufriß auf geopolitischer Grundlage“ 1930), weisen mit Besorg- nis darauf hin, daß Deutschland resp. das deutsche Volk seiner Lebens- und Wachstum- grenze bedenklich nahegerückt ist. Kein Staat, sagen die Autoren, befindet sich volks- politisch in einer solchen Gefahrslage wie das Deutsche Reich. Und Friedrich Burgdörfer in seinem neueren Werke „Volk ohne Jugend, Geburtenschwund und Ueberalterung des deutschen Volkskörpers“ (1932) hat das Problem sehr eingehend behandelt; nach seiner sehr sorgfältigen und methodisch vorsichtigen Berechnung wird die Bevölkerung des deutschen Reiches gegen Ende dieses Jahrhundertes auf weniger als 50 Millionen her absinken. Demgegenüber werden die slavischen Länder an Bevölkerungszahl zunehmen, Europa wird ein vorwiegend slavischer Erdteil sein. Bevölkerungspolitisch wendet sich Hitler gegen die Prostitution und will sie so wie die Syphilis bekämpfen; in dieser speziellen Frage empfiehlt „Mein Kampf“ frühzeitig Heiraten vor allem des Mannes, denn die Frau sei ja hier ohnehin nur der passiveTeil — es wird die Altersgrenze der frühzeitigen Heiraten nicht angegeben, überhaupt wird das Problem nicht durchdacht. Zwar weiß der Referent, daß der Autor keine „reine doktrinäre Abhandlung“ schreiben wollte, sein Ziel war ein politisches; allein kann man heute eine dauernde politische Organisation, sei sie Partei oder Staat, aufbauen, ohne tragfähige Grundlagen? Und die müssen dem heutigen Stand der Forschung entsprechen. Hitler allerdings verficht die Meinung, daß jede große Bewegung auf dieser Erde den großen Rednern und nicht den großen Schreibern zu danken sei; wiederum eine recht gewagte Be hauptung, gegen die man wohl das dickleibige Buch des Autors selbst als Gegeninstanz anführen könnte. Es ist gewiß sehr zu bezweifeln, ob der Staat, der sich der Rassenhygiene nach Hitlers unvollkommenen Vorschriften widmen wird, zum „Herrn der Erde werden muß“. Von einem Nationalisten, der ausdrücklich den nationalen Chauvinismus verlangt, die unbedingte Unduldsamkeit und einen Fanatismus geradezu religiöser Art für seine Idee fordert, kann man nicht erwarten, daß er den Begriff der Nation, des Volkes, analysieren werde. Jeder anständige Mensch liebt sein Vaterland und seine Nation (Hitler verpönt die Bezeichnung Volk, völkisch als unklar, hat sich aber mit ihr abgefunden), aber diese Liebe ist positiv, er liebt sein Volk, d. h. arbeitet und opfert für dasselbe, aber er haßt darum nicht ein anderes, zumal zumal sein Nachbarvolk. Es muß allerdings zugegeben werden, daß bisher überall der negative Patriotismus mehr verbreitet ist als der positive. Es nimmt nicht wunder, wenn Hitler für die nationale Propaganda wider den Gegner auch die Unwahrheit zuläßt; er tadelt die Deutschen ausdrücklich, daß sie an „Objektivitäts-fimmel“ so stark leiden, daß sie das eigene Volk und den Staat zu vernichten geneigt sind, um dem Feinde ja nicht Unrecht zu tun. Hitler vergißt hier offenbar, daß auch er ein Deutscher ist, dem man solche Sucht nach Objektivität gewiß nicht nachsagen wird, auch vergißt er oder ist sich dessen gar nicht bewußt geworden, daß es Deutsche und Deutsche, ebenso wie Franzosen und Franzosen usw. gibt. Der Referent glaubt, die theoretischen Grundlagen des Hitlerschen Programmes genügend charakterisiert zu haben; doch soll noch hervorgehoben werden, daß sein Buch viele praktische Aufschlüsse über das Parteileben und -treiben bietet. Hitler hat nicht nur manches gelesen, sondern auch beobachtet; Parteigründer und -Agitatoren können in „Meinem Kampfe“ vieles lernen. Daß Hitler besonders den Weltkrieg und seinen Verlauf recht parteiisch beurteilt, wird er selbst als selbstverständlich zugeben; ob er ebenso den Mangel klarer Durcharbeitung der Grundbegriffe zugestehen wird, bleibe dahingestellt. Hitler ist der Typus der Menschen, die Goethe als gefährlich bezeichnet hat; wenn Hitler selbst die Halbheit der deutschen Vorkriegszeit in Erziehung, Schulbildung und im ganzen Kulturleben anklagt, so mag er (nicht nur für Deutschland!) recht haben, aber diese Erkenntnis wird zu einseitig und ungenügend darin gesehen, daß die Menschen keine Manneswürde gegenüber dem Monarchen lernten und sich kein Verantwortungsgefühl angeeignet haben. Wenn auch das Grassieren der Syphilis in den Großstädten auf die Halbheit zurückgeführt wird, so ist das auch ungenau analysiert, ebenso wie die Kritik der modernen Architektur und Kunst überhaupt durch die Verpönung der großen (natürlich jüdischen) Warenhäuser und der Hotels nicht erledigt ist. Man kann und muß über die Halbheit der Gegenwart nachdenken; aber eine gründliche Analyse wird in ihr nicht nur Verfallserscheinungen finden, wie Hitler. Der historisch Gebildete wird auch Gutes und Richti gessehen, er wird den Charakter der Uebergangszeit begreifen, er wird Krisen in ihr finden, aber Krisen sind eben Krisen, nicht Verfall. Allein über diese so wichtigen Dinge findet man in „Meinem Kampfe“ keine Aufklärung, der gerade für Hitler so wichtige historische Begriff des Fortschrittes wird gar nicht erörtert. Es ist begreiflich, daß eine so ausgesprochene Parteischrift den Leser direkt zwingt, über den Charakter des Autors nachzudenken. Zwei Charakterzüge sind ganz auffällig. Das absolute Selbstgefühl des politischen Führers; Hitler ist überzeugt, daß der Krieg für Deutschland anders (siegreich) ausgefallen wäre, wenn er die Kriegspropaganda hätte leiten können. Hitler hat den Glauben an seine Mission und darin liegt das Geheimnis seines Erfolges; sein Parteiprogramm ist ihm, wie er sagt, Religion und nicht nur Religion, sondern religiöser Fanatismus. Mit diesem Fanatismus verbindet sich die Unsentimentalität, über die wir schon berichtet haben. Hitler ist jedoch nicht nur unsentimental, er ist rücksichtslos und hart, fast möchte man sagen, daß diese Härte a la Nietzsche einen starken Anflug einer ganz eigentümlichen Leidensfreude in sich hat. Doch da gelangen wir zur psychologischen, eventuell psychoanalytischen Analyse, die wir den betreffenden Fachmännern über lassen wollen. Wir streifen dieses Gebiet nur insofern, als es zur Erklärung der Geistesverfassung und Logik des Verfassers von ,,Meinem Kampf“ dienen möchte. Unstreitig verdient das Buch und das Programm des Autors im Zusammenhang mit seiner politischen Praxis eine viel ernstere Beachtung, als seine Gegner, aber auch seine Freunde und Anhänger, bisher bekundet haben. Nicht nur der Hitlerismus, sondern auch Hitler ist ein bedeutendes Zeitproblem. Man hat von deutscher Seite öfters den Gegensatz von Weimar und Potsdam, Kant und Krupp als kulturpolitisches Problem hingestellt; wir würden die Disjunktion Goethe und Hitler hinzufügen. Hitler sieht, wie er beständig betont, die politische Macht als Ausfluß einer neuen Weltanschauung an. Eine neue Weltanschauung kann nur durch Geisteskraft und Geistesringen, durch Weisheit errungen werden. Das, was der Nationalsozialismus als neue Weltanschauung bietet, ist nichts als der von ihm proskribierte Materialismus. Materialismus ist nicht nur der marxistische Geschichtsmaterialismus, Materialismus ist jede durch Gewaltsamkeit aufgedrängte „Weltanschauung“. Der Staat, die politische Revolution ringt nach Macht, aber Macht ist nicht Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit. Jede Gewalttätigkeit, sei sie physischer oder geistiger Art, vermag Anschauungen nur mechanisch, materialistisch zu festigen. Ist das allmächtige Blut weniger materiell als die wirtschaftlichen Verhältnisse? Hitler könnte auf die Frage in seinem oberöster- reichischen Deutsch nur: „G’hupft wie g’sprungen“ antworten. Die Nationalsozialisten mögen außer auf Schönerer auf Treitschke, Lagarde, Mommsen, Hartmann als Vorfahren hinweisen; alle die Genannten haben, besonders den Slaven gegenüber, rücksichtslose Gewalttätigkeit (Ausrotten ! “Schlagt die tschechischen Hartschädel ein!“ u. ä.) gepredigt — zwei Historiker, ein Philosoph, ein Theologe: warun sollte ein Frontsoldat des Weltkrieges sentimentaler sein? Zumal dieses Programm des Hasses von Pastoren und Priestern in Deutschland gutgeheißen wird; offenbar ist Jesus in den Kirchen Deutschlands nicht mehr an der Tagesordnung. Die Herren können sich darüber freuen, daß auch der Abg. Rázus[6] an ihnen Geschmack gefunden hat. V. S. ________________________________ [1] An der Feldherrnhalle werden die Putschisten jedoch von der Landespolizei gestoppt. Wenig später kommt es zu einer Schießerei. Vier Polizisten und 16 Aufständische sterben im Kugelhagel. Dabei wird auch jene NSDAP-Fahne mit dem Blut von drei gefallenen Putschisten getränkt, die als "Blutfahne" in die Geschichte eingehen wird - als eine der wichtigsten Reliquien der Nazi-Bewegung. https://www.mdr.de/geschichte/hitler-putsch-prozess-100.html [2] Hybná síla, treibende Kraft [3] Als wirtschaftswissenschaftlicher Autodidakt veröffentlichte er 1919 sein antisemitisches Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes. Adolf Hitler, der 1919 in einem Schulungskurs der Reichswehr einen Vortrag Feders gehört hatte, erklärte in seinem Buch Mein Kampf Feder zu einem wichtigen Einfluss auf seine eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Feder war Gründer des Deutschen Kampfbundes zur Brechung der Zinsknechtschaft, Mitglied der Thule-Gesellschaft und des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. [4] Dass es im südlichen und östlichen Grenzgebiet Ostpreußens und in Oberschlesien Volksabstimmungen über den Verbleib im Deutschen Reich gab, ging vor allem auf Lloyd Georges Initiative zurück. Lloyd George scheiterte aber letztlich mit seiner Forderung: The new map of Europe must be so drawn as to leave no cause for disputation which would eventually drag Europe into a new war. [5] Emil Kautzsch : Biblische Theologie des Alten Testaments. Aus dem Nachlaß des Verfassers herausgegeben von Karl Kautzsch. Mohr, Tübingen 1911. [6] 1913–21 als Pfarrer in Pribylina, 1921–30 in Lieskow (Moravské Lieskové), 1930–37 in Bries (Brezno nad Hronom) Als führende Persönlichkeit der slowak. evang. autonomist. Bewegung wurde er Vorstand der Slovenská národná strana (Slowak. Nationalpartei) und 1929 Abg. dieser Partei. In ihrem Sinn schrieb er für die Ztg. „Národné noviny“ zahlreiche Leitartikel. R. gehört zu den bedeutendsten Repräsentanten der slowak. Literatur in der Zwischenkriegszeit.