D I E M A P P E Klara sitzt in ihrem Wohnzimmer am Schreibtisch. Faust liegt auf dem Sofa und murrt, er hat gerade seine Portion Hühnerpastete aufgefressen, es fehlt ihm nichts in der Welt. Klara ist gleich aus der Uni zurückgekehrt und ist sehr zufrieden. Alles ist gelungen. Herr Adam hatte sie schon in seinem Arbeitszimmer erwartet, als sie an die Tür klopfte. Er war sehr höflich, wie allerdings immer, und auch begeistert, dass sie das absurde Drama zu Hause gefunden hatte und mitbrachte. Gestern abend hat Klara etwas davon gelesen, es ist ihr zu kompliziert vorgekommen, zu seltsam..... es ist möglich, dass es einen höheren Sinn habe, aber nicht für sie, nur für Schöngeister, wie ihre gestorbene Mutter immer zu sagen pflegte, wenn etwas nicht zu begreifen war. Jene mathematische Konferenz in Berlin hat sie ganz verwirrt. Lauter Nonsens... Sie war so gut in Mathematik, sie lebt seit Jahren unter Ziffern und wird von ihren Kolleginnen 'Zifferspion' genannt. Aber die Premiere läßt sie sich nicht entgehen. Herr Adam sagte, die Erstaufführung werde am Ende des Semesters im Theater Barka in Königsfeld stattfinden. Armer Onkel, wie wäre er glücklich gewesen! Bestimmt hätte er an dem Theaterprojekt teilnehmen wollen. Na ja, jetzt sitzt er irgendwo im Himmel auf einem Wolkenkissen, er schwingt mit seinen Beinen in der blauen Luft und lacht. Lacht über sein absurdes Drama, über unsere ziellose Plagerei, über das ganze Leben, das er immer liebte und zu genießen pflegte. Klara öffnet die Mappe und kontrolliert die einzelnen Dokumente nach dem angeklebten Verzeichnis. Sie nimt zwar an, dass nichts fehlt, aber es entspricht ganz ihrer Natur und auch ihrem Beruf, alles zu überprüfen. Alles muss seinen Platz haben, alles muss in Ordnung sein. Sie streicht eine Eintragung nach der anderen ab... Nummer 15... ja, Nummer 16... ist auch da, Nummer 17... wo steckt sie ?... Nummer 18..., es muss irgendwo sein, vielleicht am Ende. Klara streicht ab, sie ist schon am Ende, sie blättert wieder durch die ganze Mappe, aber die zwei Dokumente sind nicht zu finden. Nach dem Verzeichnis auf dem Deckel handelt es sich um zwei Briefe, die Tante Gerda, Onkel Vojtìchs Schwester seinem Bruder irgendwann im Jahre 1942, also während des zweiten Weltkriegs schrieb. Sie war damals nicht in Brünn, sondern mit der Familie in einem Unterschlupf außerhalb Brünn, sie hatten Angst, in den Transport nach Theresienstadt gehen zu müssen. Es half ihnen nichts, jemand verriet ihr Versteck... Das einzige Mitglied, das die Hölle überlebt hatte, war Onkel Vojtìch. Nach dem Kriegsende kehrte er zurück, hager und krank, er blieb ohne Familie, ohne Geld und Familienschmuck, ohne Familienvilla. Alle dachten, er sei gestorben. Er muss ein stummer Vorwurf für die Nachbarn sein. Er fühlte sich unwillkommen, lästig und so einsam. Schließlich fand er eine Zuflucht in der Familie der Köchin Katerina, die viele Jahre in der Zeit der 'Ersten Republik' bei seiner Familie in der Villa angestellt war. Diese gütige Seele nahm Vojtìch in seine kleine Wohnung auf und er wurde als ein weiteres Kind betrachtet, geliebt und mit allem umsorgt. Dort blieb er bis zum Ende seines Studiums, er war der Tante Katerina, wie er sie immer nannte, sehr dankbar. Für ihn stellte sie das letzte Band zu seiner glücklichen Kindheit dar. Katerina starb im gesegneten Alter von 85 Jahren, bis zum Tode munter und lustig. Onkel Vojtìch besuchte sie regelmäßig zweimal in der Woche. Ab und zu nahm er Klara mit. Klara erinnert sich an den altmodischen Wohnraum voll von Stickereien und gehäckelten Deckchen, an den mit Zucker bestreuten Gugelhupf. Auch an die weißhaarige Tante Katerina, zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe mit einer gestärkten makellosen Schürze. Die Villa wurde dem Onkel nie zurückgegeben. Nur das schöne Wochenendhaus am Stausee. Aber er beklagte sich nicht darüber. Aber jetzt fehlen die Briefe von Gerda. Sollte sie jemand gestohlen haben? Aber warum? Niemanden mehr interessiert sich für die alte Familiengeschichte, oder...? Klara erinnert sich nicht daran, was eigentlich in den Briefen geschrieben stand. Wenigstens an nichts, was für einen unbekannten Dieb einen Wert haben könnte. Sie muss danach fragen. Morgen ruft sie Herrn Adam an. Jetzt geht sie aber ->SCHLAFEN. DAS GESCHÄFT<- -lr-