D I E V I L L A Unter den vielen Tausenden Menschen von Brünn fühlte sich Vladimír allein. Allein aber nicht unglücklich. Er liebte seine Ruhe. Draußen summte sanft und faul das nächtliche Leben der Stadt, eigentlich das Leben der Mutter aller Dörfer, wie seine Prager Kollegen die Stadt Brünn spöttisch nannten. Er saß in der Bibliothek, die zugleich auch Wohnraum war, im ersten Stock seiner luxuriösen Villa, die ein Prachtstück der Architektur der dreißiger Jahre darstellte. Zwei chromglänzende Stützen vor den Bücherregalen gehören zur Stahlskelettkonstruktion. Es gibt keine Tragwände in dem ganzen Stock, nur mehrere Stahlstützen, die durch das ganze Gebäude vertikal verlaufen. Die Form und die ganze Einrichtung entsprechen noch heute den schon im Jahre 1927 von Le Corbusier so genannten fünf Hauptpunkten der modernen Architektur. Eine halbrunde Ebenholzschale schirmt den Essplatz ab, weitere freistehende Wände aus Ätzglas bilden die einzigen Raumteiler des rund 220 Quadratmeter großen Wohnbereichs. Es ist eigentlich ein riesiger Mehrzweckraum. Die weit vorschwingende Travertinterrasse mit einem flachen Bassin und einer schlichten Stahlfontäne in der Mitte ist nach Westen in den Garten orientiert und blickt auf die Stadt herunter. Das Fensterband der Schlafräume im oberen Stock wirkt bescheiden und elegant. Der Garten ist nicht so gepflegt, wie er war, als die Großmutter noch lebte. Na ja, sie ist schon seit Jahren tot. Es war eigentlich ihr größter Verdienst, dass die Familie nach dem zweiten Weltkrieg die Villa erwarb. Sie hatte damals enge Beziehungen und nützliche Kontakte zu den Leuten der neuen Nachkriegselite. Zu jener kommunistischen selbstverständlich. Der Stadtsekretär der kommunistischen Partei stammte aus demselben Dorf, sie kannten sich von Kindheit an. Nach dem Krieg halfen sie einander. Die Großmutter bestätigte ihm sein tadelloses Benehmen in den Kriegsjahren. Es gab nämlich Gerüchte, dass es nicht stimmte, und dass der Kollege Kapr streng antisemitisch orientiert war. Es wurde auch über einige antijüdische Artikel gesprochen, die er unter einem Pseudonym in der Zeitschrift 'Vlajka` veröffentlicht hatte. Aber nichts wurde ihm bewiesen... Ende gut, alles gut. Vladimírs Erinnerungen an seine Großmutter waren nebelhaft. Immer in demselben schwarzen Kleid mit einer silbernen Brosche am Hals oder morgens in einem lila Schlafrock. Fast jeden Tag verbrachte sie im Garten oder im Erdgeschoss, wo sie ein kleines Arbeitszimmer hatte. Mit der erworbenen Villa wurde nämlich eine spezielle Pflicht verbunden. Im Erdgeschoss wurde ein kleines Museum errichtet. Ein Erinnerungssaal an das Leben und Werk der Brünner Architekten der ersten Republik, die in einem Kreis der Architekten tätig waren und die die Zeitschrift 'Impuls' herausgaben. Es waren Architekten klangvoller Namen wie zum Beispiel Vanek, Fuchs, Polasek und Rossmann. Der andere Saal wurde der unbekannten Anwesenheit von Walter Gropius in Brünn gewidmet und dort gab es auch ein kleines Archiv, das der Fakultät für Architektur und Bauwesen der Technischen Universität in Brünn gehörte. Die Pflicht ruhte darauf, zweimal in der Woche eventuellen Interessenten den Eintritt ins Museum und in die Villa zu ermöglichen. Die Großmutter wurde beauftragt, für die kleine Sammlung zu sorgen. Die, die hier einst als Dienstmädchen angestellt gewesen war, wurde also eine Art Kustos. Sie bekam ein kleines Gehalt dafür. Mit dieser Summe verbesserte sie ihren Lebensstandard. Ab und zu kamen in die Villa Architektur- und Geschichtsstudenten, um unter den staubbedeckten Dokumenten und Plänen etwas für ihre Diplomarbeiten zu finden. Aber jetzt war seit Jahren niemand mehr dort. Vladimír wäre überrascht von solch einem professionellen Besuch. Das Erdgeschoss war geschlossen mit Ausnahme der Abstellkammer für Gartengeräte. Und im kleinen Arbeitszimmer lag bis zur vorigen Woche jene Büchse mit Familiendokumenten und mit der Korrespondenz. Es war sehr angenehm in der Bibliothek zu sitzen. Vladimír saß wie immer in seinem beliebten Stahlrohrsessel, der zu einer Sitzgruppe nach dem Entwurf des weltbekannten Architekten Walter Gropius angefertigt wurde. Es war in keinen Fachbüchern und Skripten für Studenten der Architektur erwähnt, dass diese Villa nach dem Entwurf von Walter Gropius erbaut wurde. Es ist natürlich bekannt, dass Gropius, der letzte Direktor des deutschen Bauhauses, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 Deutschland und sein Werk verlassen musste. Aber es ist nicht bekannt, dass er auf der Rückreise nach Österreich eine Zeit in Brünn verbrachte, wo er den jüdischen Kaufmann David Blumentritt kennen lernte. Die Familie Blumentritt war mehr als wohlhabend, sie gehörte zu den reichsten Familien nicht nur in Brünn, sondern auch in der ganzen damaligen Tschechoslowakei. Sie besaß die größte Papierfabrik in Mähren. Der Familie gehörte auch eine kostbare Sammlung von modernen Gemälden, unter anderem ein paar Leinwände von ->OSKAR KOKOSCHKA. SCHWARZE GEDANKEN VON V.not -lr-