K L A R A Um ein Haar hätte sich Klara keine Zeitung gekauft. Ihre Augen waren müde und gerötet, als sie um halb sechs das Büro verließ, wo sie stundenlang über Zahlen gebrütet hatte. Sie wartete an der Haltestelle und glaubte in den Abgasen ersticken zu müssen. Der Lärm dröhnte schmerzhaft in ihren Ohren. Aus Langeweile kaufte Sie an einem Zeitungskiosk neben der Haltestelle eine Zeitung. Sie überflog die Hauptberichte und legte die Zeitung in die Tasche, als sie endlich ihren Obus sah. Sie stieg ein, fand einen leeren Platz und begann die Zeitung wieder zu lesen. Aber schon wieder störte sie die Menge, sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie fühlte sich entsetzlich müde. Die Heimfahrt im Obus war ihr immer ein Gräuel. Sie hasste den abendlichen Berufsverkehr, hasste es, in jenen Blechkasten gepfercht zu sein, hasste auch den endlosen Strom gesichtsloser und von Schweiß stinkender Menschen, die sich an ihr vorbeiquetschen. Der Obus war ihr täglicher Alptraum. Sie steckte die Zeitung wieder in die Tasche. Voll schmerzlicher Sehnsucht dachte sie an die Tage ihrer Kindheit mit dem blauen Himmel über dem Brünner Stausee, an die gelben Mauern und weißen Fensterläden von Onkels Wochenendhaus auf dem Hügel Kozí horka, ganz am Ende eines Fahrweges. Und auch an Onkel Václav. Die Landschaft stand klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge. Der kleine Dackel Pajda lag auf dem Rücken und spielte mit Fliegen und Schmetterlingen. Der Rasen war tiefgrün, weich und glatt. Aus den offenen Fenstern des Hauses klang ein leises Klavierspiel. Auf dem Rasen gab es ein schmiedeeisernes Tischchen mit einer Schüssel voll Kirschen und einem Serviertablett mit Mohnkuchen, ein Paar lackierte Stühle, eine Hollywoodschaukel. Sie war damals immer hungrig, sie aß zu viel Kuchen und Leckereien. Sie, ein dickes neunjähriges Mädchen. Einmal meinte der Onkel, der im Haus so wundervoll Klavier spielte, sie sollte allmählich ein wenig Sport treiben, bevor Klara zu fett würde und sich überhaupt nicht mehr bewegen könnte. Und so begannen ihre täglichen Spaziergänge in den Wald in die Pilze oder zum Strand, den engen Pfad entlang zu der kleinen Bucht. Am Strand gab es dunkelgelben Sand und ab und zu kleine Polster aus Gras. Ein grüngestrichener Kahn lag am Ufer und seine Ruder lockten zur Fahrt. Onkel Václav und Klara lagen in der Sonne und sahen der ewig gleichen Bewegung des Wassers zu. Manchmal erzählte der Onkel wunderbare Märchen, und das liebte Klara besonders. Der Mann malte mit seinen Worten bunte Bilder für sie und die Welt wurde plötzlich reich, erregend und voll von strahlenden Farben. Jeder Spaziergang war für das kleine Mädchen ein Abenteuer. Auch dem Onkel schienen die Spaziergänge Freude zu machen. Selbst wenn er im Wochenendhaus Gäste hatte, fand er immer Zeit und Gelegenheit, mit Klara als einziger Begleiterin sich ein Paar Stunden zu gönnen. Klara war stolz darauf. Hätte er es gewünscht wäre sie ihm bis ans Ende der Welt gefolgt. Der Obus donnerte über die provisorische eiserne Brücke. Plötzlich war Klara in der Gegenwart. Der Blusenkragen klebte ihr am Hals. Es hat keinen Sinn, an die vergangenen Jahre zu denken. Sie wird ihren Onkel nie mehr wieder sehen, er ist tot, es gibt keine Verbindung mehr zwischen ihnen. Nur ein bescheidener Blumenstrauß auf dem Rand des Familiengrabs auf dem Zentralfriedhof erinnert an ihre Liebe zu ihm. Jeden Sonntag geht sie dorthin zu Besuch, setzt sich auf eine kleine Bank am Grab und erzählt dem Toten, was vorige Woche geschehen ist. Der Obus wurde leer. Klara öffnete die Zeitung in der Mitte. Ihr Blick fiel auf das Foto, dessen Bildlegende mit den Worten begann: Eine neue Hoffnung der modernen Wissenschaft. Sie starrte das ein wenig unklare Foto an. Vladimír!!! Der hat Nerven! Pfui!!! Es traf sie wie ein Schock. Ihr wurde fast übel, als sie an der Endstation den Wagen verließ. Sie musste sich auf eine der Bänke setzen. Jemand bot ihr Hilfe an, so kalkweiß sah sie aus. Sie warf die Zeitung in einen Abfallkorb und machte sich auf nach Hause. Ihre Wohnung war im ersten Stock eines älteren vernachlässigten Mietshauses. Sie schloss die Tür auf, hängte die Tasche auf den Haken und kickte die orthopädischen Schuhe unter den Stuhl in der Halle. Dann schlüpfte sie in die zerlatschten Pantoffeln mit rosa Bommeln. Ihre Beine waren schwer und steif. Verbittert dachte sie daran, dass sie eigentlich niemandem fehlt. Ja, sie hat ihre Unabhängigkeit, aber wozu? Sie hat ihre Ruhe, aber diese Ruhe ruiniert ihre Nerven. Sie ist auch schuld daran. Als ob jemand ihr ins Ohr flüstern würde: Das ist deine ewige Weigerung, einen Mann zu akzeptieren. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte nicht schwach erscheinen und war daher zornig. Sie sah auf die Uhr. Es ist schon spät. Sie wischte die Tränen mit einem Kosmetiktuch ab und ging auf den Balkon hinaus. Faust, Faust, wo steckst du denn? Ein schwarzer Kater begrüßte höflich seine Gebieterin. Die letzte Seele, die ihr auf der ganzen Welt geblieben ist. Klara betrat die Küche. An den hohen Fenstern bauschten sich die Vorhänge im Luftzug. Nachdem sie Faust Milch gegeben hatte, zog sie sich aus und nahm ein heißes, entspannendes Bad. Klaras Küche wirkt altmodisch, wie allerdings fast alles, was sie in der Wohnung hat. Ein alter Gasherd mit vier Kochstellen, mit einem Backofen in einer Ecke, in der anderen gibt es einen Kühlschrank, der mit einem Tiefgefrierschrank kombiniert ist, zwischen ihnen eine lackierte Kredenz aus den 20er Jahren. Der Spültisch an der gegenüberliegenden Wand erlebte noch die Zeit der Fünfjahrpläne. Der Küchentisch in der Mitte und wackelige Stühle entsprechen der Gesamtausstattung. Am Fenster stehen einige Töpfe mit Schnittlauch, Petersilie, Basilikum und Oregano. Und auch ein Kissen für Faust. Der hölzerne Kuckkuck hat sein Häuschen verlassen, um die Zeit anzukündigen. Im Fernseher läuft sicher nichts Interessantes, aber im Moment hatte Klara keine andere ->IDEE. -lr- OSKAR KOKOSCHKAnot