S C H L A F E N Um elf Uhr ging sie zu Bett, aber eine Stunde später wurde sie wieder wach. Der Mond schien durch das Fenster und warf lange schlanke Schatten an die Wände. Sie richtete sich in ihrem Bett auf und lauschte. Dann ging sie zum Fenster und machte es auf, als könnte ihr die frische Nachtluft helfen, ihren seltsamen Traum zu verstehen. Im geschlossenen Hof draußen war es sehr still, noch ruhiger als in ihrem Schlafzimmer, aber die Ruhe wirkte jetzt nicht besänftigend auf sie. Ihr Kopf schien sich auszudehnen, der Atem blieb ihr in der Kehle stecken, sie wollte schreien. Der Schweiß brach ihr aus sämtlichen Poren. Sie lief zur Tür und riss sie auf. Doch jenseits der Tür war nur die leere Halle, die sie mit ihrer unnatürlichen Ruhe fast erstickte. Faust war nicht zu Hause. Bei diesem Wetter verbrachte er die ganzen Nächte in dem anliegenden Garten, wo er in einem riesigen Katzenchor zu singen pflegte. Aber das Konzert hatte noch nicht begonnen. Die Szene aus dem Traum tauchte wieder vor ihren Augen auf. Sie saß in der ersten Reihe in einer unbekannten Kirche, einer Mischung zwischen einem Spätgotik- und einem Barockbau. Da zu einem komplexen Neubau im Barockstil die finanziellen Mittel nicht reichten, wurde die Kirche wenigstens umgebaut. In die Wände der gotischen Kirche wurden neue Fenster gebrochen, die Gewölbe mit Stuckaturen überzogen, den Türmen barocke Zwiebelhauben aufgesetzt. Die erhaltenswerten Bilder und Statuen der ursprünglichen Ausstattung wurden in den neuen Barockaltar übertragen. Die Kirche war voll. In einem Augenblick beginnt das Konzert. Die Musiker sitzen auf ihren Posten vor dem Altar. Die Streichergruppen stimmen ihre Instrumente. Es handelt sich um die berühmte Prager Kammerphilharmonie unter der Leitung des renommierten Dirigenten Jiøí Bìlohlávek. Klara mag das Orchester, das an die erfolgreiche Tradition der tschechischen Kammermusik anknüpft. Das Programm liegt auf ihren Knien: Gustav Mahlers 'Kindertotenlieder' mit Dagmar Pecková. Aber das Orchester sieht sehr seltsam aus. Die Musiker sind lauter Nonnen in den Ordenskleidern der Franziskanerinnen. Es kommt der Dirigent mit der Solistin Peckova in einem Franziskanerhabit, Bìlohlávek ist nicht befrackt. Er hat einen gestreiften Schlafanzug an und seine Füße stecken in Plüschpantoffeln. Onkel Vojtìch sitzt neben ihr und lacht sehr laut. Das Publikum klatscht, der Dirigent hebt seinen Arm mit dem Taktstock, die ersten Töne füllen die Kirche. Man wandert durch öde Täler des Schmerzes, man fühlt Angst und Hoffnungslosigkeit. Einfache Diatonik wechselt und vermengt sich mit schmerzlich eindringlicher Chromatik, alles Verzierende und Unsubstanzielle ist beseitigt, alles ist der düsteren Stimmungslage unterstellt, die Hölzer und das Waldhorn treten zeitweise solistisch auf, die Harfe und die Celesta tragen zum Klangkolorit bei. Mit emotioneller Intensität wird das große Thema des Todes in seiner tragischsten Gestalt entfaltet. Klara fühlt, wie ihr die Musik die Tränen in die Augen treibt, die Sängerin ist so überzeugend. Nun will die Sonn´ so hell aufgeh´n Als sei kein Unglück die Nacht gescheh´n! Das Unglück geschah nur mir allein! Die Sonne, sie scheinet allgemein! Du musst nicht die Nacht in dir verschränken Musst sie in ew´ge Licht versenken! Ein Lämpchen verlosch in meinem Zelt! Heil sei dem Freudenlicht der Welt! Klara weint, ihre Achseln zittern. Oft denk´ich, er ist nur ausgegangen! Bald wird er wieder nach Hause gelangen! Der Tag ist schön! O, sei nicht bang! Er machte nur einen weiten Gang! Jawohl, er ist nur ausgegangen Und wird jetzt nach Hause gegangen! O, sei nicht bang, der Tag ist schön! Er macht nur den Gang zu jenen Höh´n! Er ist uns nur vorausgegangen Und wird nicht wieder nach Haus verlangen! Wir holen ihn ein auf jenen Höh´n! Im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh´n! Klara sieht den Onkel seinen Sessel verlassen. Er schwebt wie ein Engel, er steigt höher und höher, er ist schon in der Kuppel der Kirche. Aus seinem Rücken sind riesige Flügel gewachsen. Nein, keine Flügel. Es sieht so aus, aber es sind die zwei verlorenen Briefe von Tante Gerda. Dort wird der Traum bricht der Traum ab. Klara weiß nicht, was der Traum bedeuten sollte. Sie könnte versuchen, den Sinn, falls es überhaupt möglich ist, in dem Traumbuch nachzuschlagen. Sie hat das Buch von ihrer Mutter geerbt, aber niemals gebraucht. Es ist aber wichtig, wieder schlafen zu gehen. Sie nimmt eine Schlaftablette und schlüpft unter die Decke. DIE MAPPE<- -lr-