Ü B E R R A S C H U N G O H N E E N D E Langsamer Schritt, aussetzende Atmung, in der rechten Hand eine voll gepackte Tasche. Der Rücken gebeugt unter dem großen Alpinus-Rucksack. Die Augen weit aufgerissen. Im Gesicht ein unbestimmter Ausdruck. Hier und da ungläubiges Kopfschütteln. Das alles ist Melanie, eine gute Freundin von Lea. Sie, die jetzt für vierzehn Tage nach Brno zu Besuch gekommen ist und auch ihre Mitarbeiterin an der Volkshochschule in Regensburg war, geht an Leas Seite vom Busbahnof Zvonaøka in Richtung Zentrum. Sie wollte unbedingt laufen. "Das ist also DEIN Brno!", sagte sie. Lea ahnte, welche Gedanken wohl durch Melanies Kopf strömen. Sie hat ihr die Stadt als einen schönen, angenehmen Ort geschildert, der in jeder Hinsicht etwas zu bieten hat. "Dir kommt es hier nun grau und schmutzig und traurig und als eine große Baustelle vor, ich weiß. Aber fälle dein Urteil nicht voreilig! Ich zeige dir die schönsten Ecken von Brünn, alles, was die Stadt nicht auf den ersten Blick zeigen will, was hinter der unansehnlichen Fassade steckt. Aber auch in den finstersten der finsteren Gassen ist was Niedliches, vielleicht ... weil sie so ähh..., nicht so abgeschliffen sind, weil dort das Leben lebt, ich weiß nicht, aber du wirst es selbst sehen. Als ich damals Brünn zum ersten Mal gesehen habe, hatte ich bestimmt so ein Gefühl wie du jetzt", versuchte Lea ihre überraschte Freundin zu beruhigen. Schon wieder schwere, langsame Schritte. Räuspern. Zögerndes Klopfen. Einmal. Und noch zum zweiten Mal, ganz kurz. Als er die Tür öffnete, begann der sanfte Herbstwind, der durch das geöffnete Fenster einströmte, mit Gardinen und mit überall liegenden Papierblättern zu spielen. Er machte die Tür rasch zu und als ob er das nächste Hindernis für die Zugluft sein könnte, lehnte er sich noch an diese. Leas Arbeitszimmer sog süßliche Luft aus dem Hof an. Junge Frauen, die angestrengt in ein Photoalbum schauten und vergnügt kicherten, genossen in allen Gliedern die wohl letzten etwas wärmeren Tage. "Hallo, Lea, störe ich nicht?", Adam brachte die zweite anwesende, ihm nicht bekannte Frau in Verlegenheit. "Nein, kommen Sie rein. Das ist meine Freundin Melanie aus Regensburg." "Freut mich, Adam", erwiderte der Mann trocken, trotzdem höflich, "nur kurz, Lea, ich will wirklich nicht stören, wenn Sie hier Besuch haben", sagte Adam, zwirbelte sich verlegen in dem Bart und schwieg, vielleicht zu lange. "Hmm, wie soll ich es sagen... um ehrlich zu sein, ich komme nur ungern, ich würde Sie in die Sache gar nicht einbeziehen, aber... ich kann keinen anderen Ausweg finden... es geht um Vladimír, es ist eher persönlich als beruflich, obwohl das schwer zu sagen ist." Adam blickte Melanie an, er war sich nicht ganz sicher, ob er in ihrer Anwesenheit weiter sprechen sollte. Dann begann er trotzdem. Es war sowieso alles so absurd. Auch diese Gesprächssituation, sie passte zum Thema. "Sie sprechen doch mit Vladimír, Sie treffen einander... sind vielleicht auch Freunde..." Etwas längere Pause. "Ich möchte Sie bitten, ob Sie ihn nicht fragen könnten, ob er wirklich nicht die Briefe von Vojtìch hat..." Lea runzelte die Stirn und schaute überrascht ihren Kollegen an. In ihren Augen standen große Fragenzeichen geschrieben. "Vojtìch, als er noch gelebt hat, hat Vladimír einige alte Briefe geliehen, die seiner Familie gehören und die großen Wert haben sollen. Diese Dokumente sollen Vladimír bei seiner Habilitation nützlich gewesen sein. Und Vojtìchs Verwandten wollen sie jetzt zurückhaben, aber Vladimír bestreitet, dass er sie hätte." Lea starrte Adam an und ahnte nicht, warum er ihr das erzählt. "Ich habe mit ihm schon gesprochen, aber das brachte nichts." Adam setzte sich, fix und fertig, auf den Stuhl nahe der Tür, wo er auch die ganze Zeit stehen blieb. Er sprach schwer und abgebrochen: "Ich weiß es aber. Er hat sie. Vojtìch hat´s mir gesagt. Er wollte Vladimír helfen. Der macht aber, als ob er sie niemals gesehen hätte. Aber das ist nicht Wahr!", Adam war über alle Massen erbost. Lea hob sich langsam von ihrem tiefen, roten Sessel und fragte nur kurz, die Augen auf Adam gefesselt. "Und was soll ICH machen?", "Fragen! Fragen Sie ihn bitte! Ich glaube nicht so ganz, dass er sie nicht hat. Sie wissen doch, dass wir nie dicke Freunde waren, und wenn dazwischen etwas Persönliches hängt, so, so ... wird er sie mir nicht anvertrauen." Adam beruhigte sich wieder langsam. "Bitte, Lea, nur wegen Vojtìch." Weil es Freitag war und, alle Termine für heute abgehackt waren und die Sonne wie verrückt schien, willigte Vladimír ein, den Arbeitsplatz früher zu verlassen als sonst. Gemeinsam mit Lea und Melanie brachen sie dann zum Stausee auf. Sie wollten einen kleinen Abendspaziergang machen und danach einen netten Platz finden, wo sie etwas zum Trinken bekommen und wo sie in Ruhe quatschen könnten. Zum Schluss brachte Vladimír beide Frauen in das 'Honighäuschen`, wo sie etwas bekommen, was in Deutschland bestimmt nicht zu bekommen ist, wie der Mann mit einem geheimnisvollen Lächeln versprach. Und wirklich, sie steuerten auf einen Garten zu, wo überall herum alte geschnitzte Bienenhäuser von verschiedensten Gestalt zerstreut waren, und im Schatten eines massiven Baumes fanden sie einen freien Platz auf der hölzernen Sitzbank. Der geschwätzige Inhaber bot alles Mögliche aus Honig an -- Getränke, Lebkuchen, Kosmetik... Lea entschied sich für 'Met` - Honigwein mit Zimt-Beigeschmack. Melanie und Vladimír ließen sich Honigbier schmecken. "Am Wochenende könnte ich euch zeigen, wo ich wohne, ich würde einige Freunde einladen und wir könnten grillen ... übrigens Masarykova ètvr», das ist das Viertel, wo ich lebe, ist eines Bummels wert, es gibt hier interessante und prächtige Häuser und Villen, die vor allem um die Jahrhundertwende gebaut wurden und in denen einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wohnten... und wohnen." In dem Moment hörte Lea nicht so ganz zu, sie überlegte, wie sie Vladimír fragen sollte, ob er mit Vojtìchs Briefen tatsächlich etwas zu tun hat. Ihr gefiel die Rolle irgendeines Unterhändlers überhaupt nicht, trotzdem versprach sie dem guten Adam ihre Hilfe. Und diese unerfreuliche Aufgabe wollte sie möglichst schnell hinter sich haben. Sie fiel Vladimír ins Wort. "Vladimír, arbeitest du immer allein an deiner Arbeit? Oder hilft dir dabei jemand... zum Beispiel einer von den älteren, erfahrenen Professoren?", Lea war angespannt, sie war ein solches Verhalten nicht gewohnt. Deswegen veränderte sie ihre Taktik und fragte direkt. "Hat dir Professor Vojtìch nicht irgendwelche Unterlagen für deine Arbeit geliehen? Seine Verwandten suchen vergebens einige alte Familienbriefe und wissen nicht genau, wer sie haben soll. Es soll jedoch jemand aus der Uni sein." Vladimír drehte langsam den Kopf um, seine Augen verrieten Überraschung und vielleicht... vielleicht stand in ihnen auch Furcht. Dann machte er jedoch eine ablehnende Handbewegung, Lea solle ihn nicht stören, er wolle Melanie seine Geschichte zu Ende erzählen, und mit verfinsterter Miene fuhr er fort. Lea hat den Besuch von Melanie unterschätzt. Sie hat sie eingeladen, um sich nicht allein zu fühlen. Aber Vladimír gehört ihr! Sie hat an ihn als die erste gedacht. Man spielt doch ->DIE BLECHTROMMEL sie könnte ihn doch einladen und fragen. SCHWARZE GEDANKEN VON A.<-