Dreikönigs-Deklaration vom 6. Jänner 1918

Im vierten Jahre des furchtbaren Weltkrieges, welcher ungezählte Opfer an Leben und Gütern der Völker gefordert hat, geschehen die ersten Schritte zum Frieden. Wir tschechischen Abgeordneten des Reichsrates, welcher durch Urteile unzuständiger Militärgerichte einer ganzen Reihe seiner slawischen Mitglieder beraubt wurde, und ebenso wir tschechischen Abgeordneten des aufgelösten und bisher noch nicht erneuerten Landtages des Königreiches Böhmen, wie auch des während der ganzen Kriegszeit nicht einberufenen Landtages der Markgrafschaft Mähren und des nicht erneuerten Landtages des Herzogtums Schlesien als erwählte Vertreter der tschechischen Nation bekräftigen alle Erklärungen der tschechischen Delegation im Reichsrate-und sind verpflichtet, klar und bestimmt für das tschechische Volk und für den unterdrückten und politisch zum Schweigen verurteilten slowakischen Stamm in Ungarn unseren Standpunkt zu der Neuregelung der internationalen Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.

Als die tschechischen Abgeordneten unserer wiedererstandenen Nation während des französisch-deutschen Krieges über die internationalen europäischen Fragen sprachen, erklärten sie in ihrem Memorandum vom 8. Dezember 1870 feierlich: "Alle Nationen, ob groß oder klein, haben ein gleiches Recht auf Selbstbestimmung und ihre Gleichheit soll im gleichen Maße beachtet werden. Nur aus der Anerkennung der Gleichberechtigung und der wechselseitigen Würdigung der freien Selbstbestimmung aller Nationen kann deren Freiheit und Brüderlichkeit, der allgemeine Frieden und die wirkliche Menschlichkeit empor blühen."

Wir Abgeordneten der tschechischen Nation, auch heute noch treu diesen Grundsätzen unserer Vorgänger, haben es mit Freude begrüßt, dass heute alle jene Staaten, kriegführende und neutrale, welche auf den Grundsätzen der Demokratie aufgebaut sind, mit uns diese freie Selbstbestimmung der Nationen für die Gewähr eines allgemeinen, dauernden Friedens halten. Bei seinem Versuche um einen allgemeinen Frieden hat das neue Russland den ähnlichen Friedensbedingungen den Grundsatz der Selbstbestimmung der Nationen derart angefügt, dass die Nationen durch freie Wahl über ihr Leben entscheiden, und beschließen mögen, ob sie einen u n a b h ä n g i g e n S t a a t errichten o d e r eine s t a a t l i c h e G e m e i n s c h a f t im Vereine mit anderen Nationen bilden wollen.

Hingegen erklärte der Vertreter Österreich-Ungarns namens des Vierbundes, dass die Frage der Selbstbestimmung der Nationen, welche bisher keine staatliche Selbständigkeit besitzen, in jedem Staate auf dem Wege der Verfassung gelöst werden solle. Im Hinblicke hierauf sind wir verpflichtet, für die tschechische Nation zu erklären, dass dieser Standpunkt des Vertreters Österreich-Ungarns nicht unser Standpunkt ist. Wir haben im Gegenteil in allen unseren Erklärungen und Anträgen diese Lösung bekämpft, weil sie nach unseren zahlreichen bitteren Erfahrungen nichts anderes bedeutet als die vollständige Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Wir beklagen es tief, dass unsere Nation durch künstliche Wahlordnungen ihrer staatsrechtlichen Selbständigkeit und ihres Selbstbestimmungsrechtes beraubt und hierauf der Herrschaft einer deutschen Minderheit und einer deutschen zentralistischen Bureaukratie ausgeliefert wurde. Unser slowakischer Zweig wurde sodann das Opfer der magyarischen Brutalität und einer unerhörten Vergewaltigung in einem Staate, der trotz aller scheinkonstitutionellen Formen der dunkelste Winkel Europas bleibt und in dem die nichtmagyarischen Nationen, welche die Mehrheit bilden, durch die herrschende Minderheit gequält und ausgerottet und von der Wiege an entnationalisiert werden, und welche sozusagen ohne jegliche Vertretung im Parlament und in den Ämtern, ohne öffentliche Schulen und ohne Freiheit bezüglich der Privatschulen sind.

Die Verfassung, auf die sich der Vertreter ÖsterreichUngarns beruft, hat auch die Gerechtigkeit des allgemeinen Stimmrechtes geschändet, indem sie im österreichischen Reichsrate auf künstlichem Wege die Anzahl der Mandate der deutschen Minderheit vermehrt hat, und ihre völlige Wertlosigkeit für die Freiheit der Völker hat sich laut und deutlich in einem grausamen Militärabsolutismus während der Kriegszeit gezeigt. Jeglicher Hinweis auf diese Verfassung bedeutet daher in Wirklichkeit nur eine Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes, eine Auslieferung aller nichtdeutschen Nationen in Österreich und eine geradezu grausame dauernde Verhöhnung für die nichtmagyarischen Nationen in Ungarn, wo die Verfassung lediglich ein Werkzeug der rücksichtslosesten Herrschaft einiger adeliger magyarischer Oligarchengeschlechter ist, wie dies neuerlich durch die Vorlage über die Wahlreform bestätigt wurde.

Unsere Nation erstrebt mit allen Demokratien der Welt einen allgemeinen und dauernden Frieden. Sie ist sich aber voll bewusst der Wahrheit, dass nur ein solcher Frieden von Dauer sein könne, der das alte Unrecht, die brutale Gewalt des Übergewichtes der Waffen, wie auch die Vorherrschaft von Staaten und Nationen über andere Nationen beseitigt, der die Entwicklung der großen und kleinen Nationen sicherstellt, und der insbesondere jene Nationen befreit, die bis jetzt unter fremder Vorherrschaft seufzen. Deshalb muss dieses Recht auf freies nationales Leben und auf Selbstbestimmung der Nationen, sei es der kleinen, sei es der großen, und auf alle staatlichen Zugehörigkeiten die Grundlage des künftigen internationalen Rechtes, eine Bürgschaft für den Frieden und für das freundschaftliche Zusammenleben der Nationen sein und das große ideale Gut bilden, welches sich die Menschheit aus den Schrecknissen des Weltkrieges erkämpft hat.

Wir Abgeordneten des tschechischen Volkes erklären, dass ein Frieden, der unserer Nation nicht die Gerechtigkeit und Freiheit bringen würde, für sie kein Frieden sein könnte, sondern nur der Anfang eines neuen mächtigen und zielbewussten Kampfes um die staatliche Unabhängigkeit, in dem unser Volk alle seine materiellen und sittlichen Kräfte bis zum äußersten anspannen und in diesem rücksichtslosen Kampfe nicht erlahmen würde bis zu einem glücklichen Ende.

Unser Volk ruft nach seiner Selbständigkeit, gestützt auf sein historisches Staatsrecht und völlig durchdrungen von dem heißen Wunsche, es möge in freiem Wettbewerbe mit den anderen freien Völkern und in seinem souveränen, vollberechtigten, demokratischen, sozial gerechten und auf der Freiheit seiner ganzen Bürgerschaft aufgebauten Staate innerhalb seiner und seines slowakischen Zweiges historischen Landesgrenzen und Siedlungsgebieten beitragen zu dem neuen großen Aufschwünge der Menschheit, welcher auf Freiheit und Brüderlichkeit gegründet ist, indem es in diesem Staate den n a t i o n a l e n M i n d e r h e i t e n volle und g l e i c h e n a t i o n a l e R e c h t e zuerkennt. Geleitet von diesen Grundsätzen erheben wir feierlich Einspruch gegen die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bei den Friedensverhandlungen und verlangen, dass im Sinne dieses Rechtes allen Völkern und daher auch dem unseren Teilnahme und volle Freiheit zur Verteidigung ihrer Rechte auf dem Friedenskongresse gewährleistet werde.

Abbildungsquelle:
Epstein, Leo: Studienausgabe der Verfassungsgesetze der Tschechoslowakischen Republik. Reichenberg, 1932.
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