Aus dem Inhalt Abschied vom Lagerleben Wenn heute Menschen aus allen möglichen Ländern nach Deutschland strömen und keine noch so exotische Ausländergruppe wirklich überraschen kann, so drängt sich als erstes doch die Frage auf, wenn von Litauern in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede ist, wer waren nun diese Leute, wie sind sie hierhergekommen, was haben sie hier gewollt, was gemacht und wieso bestehe die damals von ihnen gegründete Vereinigung immer noch fort? Um die Antwort darauf zu finden, müssen wir uns in eben diese Zeit zurückversetzen, eine Zeit, die selbst erlebt zu haben heute immer weniger Menschen von sich sagen können... Soldaten der unsichtbaren Front Jede Generation braucht ihre Helden. Zu solchen werden vorzugsweise Soldaten erklärt, die für die Freiheit des Vaterlandes gefallen sind. Ihnen werden Denkmäler gebaut, symbolische Friedhöfe errichtet. Sie wurden früher sogar als Helden und Heroen gerühmt, ihre Heldentaten nicht nur in den Ansprachen während der Zeremonien gepriesen, sondern auch in Geschichtsbüchern und Filmen festgehalten. Jedoch nicht alle Personen, die in den Armeen dienten und bei der Erfüllung ihrer „Pflicht" fielen, werden als Volkshelden verehrt. Vor allem geheime Missionen und Spionage waren und sind solche Orte, wo die Eingesetzten in vollem Sinn des Wortes auf Messers Schneide zwischen einer legalen und nichtlegalen Aktivität balancieren. Sie sind Krieger einer unsichtbaren Front. Die von den Geheimdiensten angeworbenen Personen führen ihre Aufgaben nach der Logik „Wulst du was kriegen, musst du betrügen" durch, so dass sie nicht selten gezwungen sind, zu nichtlegalen Mitteln zu greifen... Das Portrait von Donelaitis in der litauischen Presse des Jahres 1964 Während der Feierlichkeiten zum 250. Jubiläum von K. Donelaitis wurde ein auffallendes Portrait des Dichters, das die Verfasser der Artikel als „fast authentisch" bezeichneten, in der litauischen Presse veröffentlicht. Der Dichter wurde hier mit „durchdringendem Blick, hoher Stirn, bis auf den Backenbart glatt rasiert" dargestellt. Er trug den in Ostpreußen üblichen schwarzen Talar eines lutherischen Pfarrers mit einem weißen Beffchen. Aber die Streifen des Beffchens hingen nicht im Winkel von 30% auseinander, wie es bei lutherischen Pfarrern üblich war, sondern übereinander. Die Haare des Dichters waren nach dem Brauch lutherischer Pietisten nach hinten gekämmt, allerdings nicht in der Mitte gescheitelt, was bei den Pietisten Demut bedeutete, sondern ein wenig nach links fallend... ISSN 1641-2608 Dr. Christian Pietzing Dr. Vaidas Šeferis Josef Tennikat Prof. Dr. Axel E. Walter Prof. Dr. Dietmar Willoweit Alois Weigel Algirdas Žemaitaitis Akademie Sankelmark Akademiestr. D-24988 Oeversee Masarykova univerzita, filosofická fakulta, Arna Nováka 1 CZ-60200 Brno Dresdnerstr. 16 D-27755 Delmenhorst Universität Osnabrück Interdisziplinäres Institut für Kulturgeschichte der Neuzeit Neuer Graben 19/21 D-49074 Osnabrück Universität Würzburg, Juristische Fakultät Sanderring 2 D-97070 Würzburg Heidelberger Pädagogium Schröderstr. 22 D-69120 Heidelberg Zemynos g. 8-7 LT-06130 Vilnius Impressum ANNABERGER ANNALEN ÜBER LITAUEN UND DEUTSCH-LITAUISCHE BEZIEHUNGEN NR. 23, 2015 ISSN 1614-2608 Herausgeber: Arthur Hermann, Annemarie Lepa, Dr. Christina Nikolajew und Dr. Lina Pilypaityte im Auftrag des Baltischen Christlichen Bundes, Bonn und des Litauischen Kulturinstituts, Lampertheim Konto: RV Bank Rhein-Haardt eG, IBAN: DE83 5456 1310 0103 6005 99 BIC: GENODE61LBS Internet: www.annaberger-annalen.de Redaktion u. Vertrieb: Internetbetreuung: Umschlag Graphik: Lektorat: Arthur Hermann C.M.v.Weberstr. 14, 69245 Bammental Tel.: 06223-40594 arthur@ jhermann.de Annemarie Lepa annemarie.lepa@vahoo.de Dr. Christina Nikolajew dr.nikolaiew@gmx.de Dr. Lina Pilypaityte linapils @ vahoo.com Tomas Baublys, Bonn baublvs @ annaberg.de Eva Labutyte t Silke Brohm, Horst Elbe, Gerhard Lepa, Lina Pilypaityte Übersetzungen aus dem Litauischen: Arthur Hermann Druck: az-druck u. Datentechnik Heisingerstr. 14 D-87437 Kempten 328 329 Annaberger Annalen 23/2015 isammenschlusses der europäischen dafür einsetzten. Die Europäische Europäischen Union, lehnte er al-jiae" ab, weil er angesichts der an-l die sowjetische Armee davon die i ~>9 htete. Wirtschaftskörper", wie ihn Alfred des Ersten Weltkriegs planten, in den, und ihr Hauptziel, nämlich der ibehinderte Export deutscher Wirteuropäische Ausland, ist durch die it Deutschland militärisch über die suerdings sogar währungspolitisch Allerdings wird es nicht, wie 1918 lt beherrscht, da die EU eine de-staaten gewährleistet, und Kolum-n Mitteleuropapläne vor einer zu-I EU warnen, sind nur in ganz ver- Coming True, 2.8.2011, >pa-a-dream-coming-true; gehässige Weltkrieg durch die Gleichsetzung . Aya Bach, Merkel as Hitler, Deutsche 6753456 Metai von Kristijonas Donelaitis im Licht der Kompositionsanalyse Vaidas Seferis Die vorliegende Studie widmet sich einem der wichtigsten Werke der litauischen Literatur - der Dichtung Metai (Das Jahr) von Kristijonas Donelaitis1. Es ist der Versuch, eine Reihe von Fragen nach der Kohärenz und der Komposition dieses Werkes, das bereits bei seinem ersten Erscheinen im Druck die Aufmerksamkeit der Philologen auf sich zog, in Grundzügen vorzustellen2. Bilden die vier Teile dieses Werkes ein zusammenhängendes Ganzes? Wie ist ihre richtige Reihenfolge? Kann man jeden separaten Teil als in sich kohärent betrachten? Welche textformalen und semantischen Eigenschaften bilden den Hintergrund für den Eindruck der Kohärenz oder Inkohärenz dieses Kunstwerkes? Folgt die Narration einem strengen Kompositionsmuster oder verläuft sie ohne einen klaren Plan? Diese Fragen waren zwar in der Vergangenheit schon mehrfach Gegenstand von Untersuchungen, sind jedoch oft widersprüchig von verschiedenen Forschern beantwortet worden, sodass ein gesicherter Interpretationsrahmen für die Donelaitis-Lektüre nicht gegeben ist. Weder die Frage nach der komposi-tionellen Einheit von Metai noch die nach der Abfolge der einzelnen Teile dieses Werkes sind bisher befriedigend geklärt worden. Auch eine tiefere Analyse der inneren (In-)Kohärenz dieses Werkes sowie eine gründliche Kompositionsanalyse sind bislang nicht unternommen worden3. Es scheint daher sinn- 1 Es ist wohl bekannt, dass der Titel Metai I Das Jahr nicht authentisch und daher in mancher Hinsicht nicht unproblematisch ist. Wir widmen uns dieser Frage im weiteren Gange unserer Untersuchung. 2 In detaillierterer Form werden diese Aspekte von Donelaitis' Werk in der vor kurzem erschienenen Monographie analysiert: Vaidas Seferis, Kristijono Donelaicio „Metu" rislumas, Vilnius: Lietuviij literatüros ir tautosakos institutas, 2014. 3 Beide Aspekte sind nur teilweise in den Fokus der Forscher geraten - nie aber als ein eigenständiges Forschungsobjekt. Vgl. folgende Studien: Dalia Dilyte, Kristijonas Donelaitis ir Arnika, Vilnius: Vilniaus universiteto leidykla, 2005; Leonas Gineitis, „Jvadas", in: Kristijonas Donelaitis, Rastai, redakcine komisija Kostas Korsakas (pirm.), Kostas Doveika, Leonas Gineitis, Jonas Kabelka, Kazys Ulvydas, Vilnius: Vaga, Lietuvos TSR moksh} akademija, Lietuvii} kalbos ir literatüros institutas, 1977, S. 5-33; Rimvydas Silbajoris, „Teksto plotmitj santykiai Donelaicio Metuose", in: Egzodo Donelaitis: Lietuviu iseiviu tekstai apie Kristijonq Donelaitj, sudare ir parenge Mikas Vaicekauskas, Vilnius: Aidai, 2001, S. 403-425; Tomas Venclova, „Erdve ir laikas Donelaicio Metuose", in: Tomas Venclova, Vilties formos: Eseistika ir publicistika, Vilnius: Lietuvos rasytoji} sajungos 245 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 voll und sogar nötig, diese Fragen erneut aufzuwerfen und nach adäquaten Interpretationsmustern zu suchen. Der Artikel versucht, den Stand der Forschung auf diesem Gebiet zu skizzieren, methodologische Ausgangspunkte für eine neuerliche Analyse zusammenzutragen und schließlich die Ergebnisse dieser Analyse in transparenterer Form zu präsentieren. I. Rhesa und Nesselmann Es erübrigt sich hier, die Biographie von Kristijonas Donelaitis erneut anzuführen, da sie in nahezu jedem Werk zur Geschichte der litauischen Literatur leicht zu finden ist. Deshalb konzentrieren wir uns nur auf die biographischhistorischen Aspekte seines Schaffens, die für weitere Überlegungen zum Metai-Text maßgebend sind. Die überlieferten Originalhandschriften von Donelaitis' poetischen Werken befinden sich im Institut für litauische Literatur und Folklore in Vilnius. Es sind dies die zwei Metai-Teile „Pavasario linksmybes" („Die Freuden des Frühlings") und „Vasaros darbai" („Die Arbeiten des Sommers") sowie die sog. „Fortsetzung"4. Die Handschriften der Metai-Teile „Rudenio gerybes" („Die Gaben des Herbstes") und „Ziemos rüpesciai" („Die Sorgen des Winters"5) sowie weiterer literarischer Werke gelten als verschollen6. Der Text der fehlenden Originalhandschriften ist durch die sog. Hohlfeldtsche Abschrift überliefert. Diese datiert vom Ende des 18. Jahrhunderts und beinhal- leidykla, 1991, S. 261-266; Saulius Zukas, „Donelaicio Meti{ rislumo klausimu", in: Saulius Zukas, Zmogaus vaizdavimas lietuviu literatüroje, Vilnius: Baitos lankos, 1995, S. 92-109. Alle Handschriften wurden vor kurzem in einer Großformat-Ausgabe reproduziert: Kristijono Donelaicio rankrasciai. Fotografuotinis leidimas, parenge Mikas Vaicekauskas, Vilnius: Lietuviii literatüros ir tautosakos institutas, 2014. (s.a. die Rezension von Arthur Hermann in: Archivum Lithuanicum. (16),2014. S.411-416.) 5 Im Weiteren werden diese Teile wie folgt gekennzeichnet: „Die Freuden des Frühlings" [„Pavasario linksmybes"] - FF, „Die Arbeiten des Sommers" [„Vasaros darbai"] - AS, „Die Gaben des Herbstes" [„Rudenio gerybes"] - GH, „Die Sorgen des Winters" [„Ziemos rüpesciai"] - SW. 6 Es handelt sich um sechs Fabeln von Donelaitis und eine Vorstudie für Metai „Prickaus pasaka apie lietuviska^ svodba" („Fritzens Erzählung von der litauischen Hochzeit"). Diese Texte sind durch die sog. Hohlfeldsche Abschrift erhalten geblieben. Von anderen Werken Donelaitis', die in verschiedenen Quellen erwähnt sind (z. B. die geistigen Lieder und die sog. kurze Variante von Metai) ist nichts Weiteres bekannt. Unklar sind auch die genaueren Umstände, welche zum Verlust eines großen Teiles der Originalhandschriften führten. Rhesas Idee, sie seien während der Napoleonischen Kriege vernichtet worden, scheint wenig plausibel zu sein. tet alle literarischen Werke Donelaitis' im vollen Umfang (außer seine geistlichen Lieder). Alle gedruckten Metai-Ausgaben bis zum Jahr 1945 erfolgten also als Kompilationen der Originalhandschriften (FF, AS) und der Hohlfeldtschen Abschrift (GH, SW). Da aber die Abschrift selbst nach dem Zweiten Weltkrieg spurlos verschwand7, sind es die drei ersten Ausgaben der Werke von Donelaitis (vorbereitet durch Ludwig Rhesa 18188, August Schleicher 18659 und Ferdinand Nesselmann 186910), die uns den Text von GH und SW vermitteln. Von den drei Ausgaben kann nur die Nesselmannsche Ausgabe als textologisch zuverlässig gelten, da die Redaktionen von Rhesa und Schleicher zahlreiche Abweichungen vom Original aufweisen11. Für die Kompositionsanalyse ist von großer Bedeutung, dass Donelaitis keine Gesamtüberschrift über sein episches Werk (z. B. Das Jahr, Metai o. ä.) setzte: jeder Teil war in ein separates Heft mit entsprechendem Titel („Pavasario linksmybes", „Vasaros darbai", „Rudenio gerybes" und „Ziemos rüpesciai") geschrieben. Die Handschriften beinhalten keine Bemerkungen oder andere Angaben, die Rückschlüsse auf ihre auktoriale Reihenfolge erlauben. Wir haben also keine quellenbegründeten Argumente für oder gegen die Annahme, Donelaitis habe (oder habe nicht) die vier Teile als .ein zusammenhängendes Ganzes geschaffen. Seine Intentionen in dieser Hinsicht sind uns nicht bekannt, 7 Jüngste Archivforschungen in Deutschland, die auf Initiative des Instituts für litauische Literatur und Folklore in den Jahren 2012-2014 unternommen wurden, brachten einige interessante Funde zutage (z. B. die Fotokopien der Tollmingkehmer Taufbücher in Leipzig oder bisher unbekannte eigenhändige Briefe von Donelaitis in Angelegenheiten seines Pfarramtes), aber keine Spur von seinen literarischen Schriften. 8 Das Jahr in vier Gesaengen, ein laendliches Epos aus dem Litthauischen des Christian Donaleitis, genannt Donalitius, in gleichem Versmass ins Deutsche uebertragen von D. Ludwig Jedemin Rhesa, Prof. d. Theol., Koenigsberg: gedruckt in der Koenigl. Hartungschen Hofbuchdrukkerei, 1818. 9 Christian Donaleitis Litauische Dichtungen, erste vollständige Ausgabe mit Glossar von August Schleicher, St. Petersburg: Commissionäre der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, in St. Petersburg Eggers u. Comp., in Riga N. Kymmel, in Leipzig Leopold Voss, St. Petersburg: Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 1865. 10 Christian Donalitius Littauische Dichtungen, nach den Königsberger Handschriften mit metrischer Uebersetzung, kritischen Anmerkungen und genauem Glossar herausgegeben von Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann, Königsberg: Verlag von Hübner & Matz, 1869. 11 Georg Heinrich Hans Ferdinand Nesselmann, „Noch einmal Donalitius - Schleicher", in: „Altpreussische Monatsschrift", 1867, IV, S. 65-79. Idem, „Vorrede", in: Christian Donalitius Littauische Dichtungen, nach den Königsberger Handschriften mit metrischer Uebersetzung, kritischen Anmerkungen und genauem Glossar herausgegeben von Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann, Königsberg: Verlag von Hübner & Matz, 1869, S. III-XIV. Leonas Gineitis, „Jvadas", op. eh., S. 5-33. 246 247 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 und die zwei Text-Parameter Umfang und Lesefolge sind nur aus indirekten Indizien abzuleiten. Die traditionelle Auffassung, das Werk als ein episches Ganzes zu betrachten, den Titel Das Jahr und die Lesefolge des Textes vom Frühling bis zum Winter führte Ludwig Rhesa in seiner Erstausgabe ein und schuf somit den dominierenden Interpretationsrahmen dieses Werkes12. Rhesa ist ebenfalls der Erste, der die seitdem gängige Meinung äußerte, die Narration in Metai entfalte sich als eine Nachahmung der Naturprozesse und bäuerlichen Arbeiten zu jeder Jahreszeit13. Dass Rhesa dabei sowohl den Text des Werkes als auch dessen innere Beschaffenheit an die Erwartungen seiner eigenen literarischen Epoche stark „adaptierte", ist sehr wohl bekannt. Diese Konzeption von Metai - mag sie als „natürlich", „üblich", „selbstverständlich" o. ä. bezeichnet werden - ist also ausschließlich Rhesa und nicht Donelaitis zuzuschreiben. Georg Heinrich Ferdinand Nesselmann kritisierte Rhesa für dessen editorische Willkür, wie er es nannte14, und versuchte in der neuen, von ihm selbst vorbereiteten Ausgabe der Werke des Dichters (1869) möglichst genau das Original wiederzugeben15. Er verzichtete daher nicht nur auf den Titel Das Jahr, sondern auf Rhesas Gesamtkonzeption und hielt die einzelnen Jahreszeiten für selbstständige dichterische Werke, die kein zusammenhängendes Ganzes bilden16. Trotzdem führte Nesselmann eine strenge Reihenfolge aller Werke Donelaitis' ein, indem er die Hohlfeldtsche Abschrift zur Grundlage nahm. Da in dieser Abschrift die vier Jahreszeiten in der Reihenfolge Herbst - Winter -Frühling - Sommer fixiert waren, hielt er diese Abfolge für die einzig richtige17. Dabei ist es wichtig im Blick zu haben, dass Nesselmann von der Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Teile spricht - also in welcher Abfolge Donelaitis sie geschrieben haben soll, daraus jedoch keine Lesefolge ableitet, da er die vier Jahreszeiten nicht als Teile eines größeren epischen Werkes versteht. Wobei er diese Auffassung von Metai als auktorial, d. h. von Donelaitis selbst eingeführt, präsentierte: Ludwig Jedemin Rhesa, „Vorbericht", in: Das Jahr in vier Gesaengen, ein laendliches Epos, op. cit., S. X. 13 Ibidem. 14 Nesselmann, „Vorrede", op. cit., S. IV. 15 August Schleichers Ausgabe der Donelaitis-Werke aus dem Jahr 1865 befindet sich im textologischen Sinne irgendwo zwischen Rhesa und Nesselmann. Wie wichtig und interessant Schleichers Auffassung von Metai auch sein mag, kann sie jedoch nicht als maßgeblich angesehen werden. 16 Nesselmann, „Vorrede", op. cit., S. IV. 17 Ibidem, S. IX-XI. So entstanden die zwei wichtigsten Interpretationsschulen zur Donelaitischen Dichtung, die bis auf den heutigen Tag die Meto'-Diskussion prägen. Dabei erscheinen die Sichtweisen von Rhesa und Nesselmann nahezu konträr, ohne jegliche Überschneidungen: Metai existiert als ein größeres Ganzes (so Rhesa) oder gar nicht (Nesselmann); man lese die einzelnen Teile vom Frühjahr zum Winter (Rhesa) oder aber vom Herbst zum Sommer (Nesselmann) bzw. in einer beliebigen Reihenfolge (ebenfalls Nesselmann). Leider hat die Philologie bisher keinen Ausweg aus dieser interpretativen Apo-rie gefunden. Dabei ist es offensichtlich, dass keine der dargestellten Positionen unhinterfragt und endgültig akzeptiert werden kann. Während Rhesa häufig den Originaltext manipulierte, stützte Nesselmann seine Argumentation auf die Hohlfeldtsche Abschrift, die aber nicht mit dem Original gleichzusetzen ist. Die Frage nach der Makrostruktur von Metai bleibt somit offen: bei Rhesa besteht der Verdacht, er habe das „ländliche Epos" selbst zusammengefügt; die von Nesselmann durchgeführte Zerstückelung der literarischen Hinterlassenschaft Donelaitis' in einzelne, nicht verbundene Gedichte erfolgte anhand einer Abschrift und ist daher ebenso wenig Ausdruck des Autorwillens. Die Reihenfolge der Jahreszeiten, wie sie in der Hohlfeldschen Abschrift fixiert ist (vom Herbst zum Sommer), kann nur als ein Zufall im Prozess des Kopierens gelten und ist für die Textinterpretation nicht bindend. Die traditionelle Reihenfolge vom Frühjahr zum Winter ist aber wegen der oben erwähnten textologischen Unzuverlässigkeit von Rhesa ebenfalls nicht zweifelsfrei. Jedoch erscheint Rhesas Konzeption in anderer Hinsicht wieder schlüssig oder zumindest verständlich: die Verbindung der vier Jahreszeiten untereinander und das sich daraus entfaltende epische Bild sind auf mehreren textuellen Ebenen begründbar (z. B. durch die Struktur der handelnden Personen, die intertextuellen Verweisungen zwischen den einzelnen Jahreszeiten, den gemeinsamen axio-logischen Hintergrund u. a.)18. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der offenbare Widerspruch in Nesselmanns Position: Einerseits lehnt er jegliche Verbindung der Jahreszeiten in einer größeren Struktur ab, andererseits hält er sich streng an die durch die Hohlfeldtsche Abschrift fixierte Reihenfolge und entwickelt sogar eine kompositionell-logische Erklärung für diese Abfolge19. Symptomatisch ist hier das Schwanken seiner Position: Nesselmann selbst sieht es als durchaus möglich an, die vier angeblich nicht zusammenhängenden Jahreszeiten in einem gemeinsamen interpretativen Rahmen zu verste- 18 Mehr dazu: Vaidas Seferis „Kristijono Donelaicio Metif kompozicijos problemos", Literatüra, 54 (1), 2012, S. 39-55. 19 Nesselmann, „Vorrede", op. cit., S. IX-XI. 248 249 Annaberger Annalen 23/2015 hen und eine Art Entwicklungslogik dieser übergeordneten Struktur zu erkennen. Bei genauerer Betrachtung der beiden konkurrierenden Konzeptionen von Metai zeigt sich, dass Rhesa vielleicht weniger „willkürlich" gewesen sein mag, als es Nesselmann sah, und dass Letzterer zu kategorisch die Einheit der vier Jahreszeiten im Rahmen eines epischen Ganzen negierte. 300 Jahre nach Donelaitis' Geburt befinden wir uns also immer noch in derselben Position wie Rhesa und Nesselmann: vor uns liegen vier umfangreiche Jahreszeitenbeschreibungen von Donelaitis, deren gegenseitige Beziehung immer noch unklar ist. II. Neuere Methoden Der Versuch, endgültige Klarheit über den Umfang des Gesamttextes und die Reihenfolge der einzelnen Teile von Metai dank Quellenforschung zu gewinnen, stößt auf Grund mangelnder Primärquellen zu Donelaitis' Leben und Schaffen objektiv an Grenzen. Es ist kaum zu erwarten, dass sich in Zukunft die Quellenlage wesentlich ändert. Daher bleibt dem Forscher nur, sich auf die textimmanenten Eigenschaften von Metai zu konzentrieren. Sollte Donelaitis beim Dichten ein episches Bild vor Augen gehabt haben, sollte dies im Text nachvollziehbar sein. Und vice versa. Unsere Untersuchung stützt sich daher auf drei methodische Voraussetzungen: (1) Die Makrokomposition und die Mikrokomposition von Metai sollten getrennt behandelt werden. Bei der Untersuchung der Makrokomposition geht es um das Verhältnis der einzelnen Teile des Gedichts zueinander sowie um die systematischen Eigenschaften des daraus entstehenden Ganzen. Bei der Analyse der Mikrokomposition gilt es, den inneren Aufbau des jeweiligen Teils und den Zusammenhang zwischen den einzelnen kleineren Episoden zu erkennen. (2) Die Syntagmatik und Paradigmatik der Narration werden bei der Analyse von Metai einander gegenübergestellt. Auf der syntagmatisehen Ebene ist zu fragen, wie und warum die Episoden auf eine bestimmte Weise miteinander verknüpft werden und welchen sinnbildenden Effekt eine solche Verknüpfung erzeugt. Auf der paradigmatischen Ebene wird der Frage nachgegangen, ob eine zu untersuchende Episode systematische Entsprechungen in anderen Teilen von Metai aufweist, wie sich die Erzählthematik entwickelt und welche semantische Struktur einer konkreten Episode zugrundeliegt. Annaberger Annalen 23/2015 (3) Metai stellt ein Werk dar, das zum Vorlesen und Zuhören bestimmt war. Deshalb wird es hier als eine mündliche Erzählung betrachtet, deren Rezi-pient Zuhörer genannt wird . Als Kriterium zur Beschreibung der Erzählkohärenz wird die Diskursisotopie gewählt. Dieser Begriff ist der Struktursemantik von Algirdas Julius Greimas entlehnt. Unter Isotopie versteht man eine konstante Wiederholung der semischen Kategorien in der syntagmati sehen Äußerungsstruktur, durch welche der Eindruck eines sinnmäßig zusammenhängenden und einheitlichen Diskurses hergestellt wird21. Unsere Fähigkeit, einige Diskursisotopien im Erzählen zu erkennen, wird somit zum ersten Kriterium der Kohärenz. Andererseits zeigen gegenwärtige theoretische Forschungen zur Textkohärenz deutlich, dass diese Eigenschaft des Textes entscheidend von subjektiven Faktoren beeinflusst werden kann. Es ist möglich, eine offensichtlich unlogische und syntaktisch unvollständige Äußerung als einen kohärenten Text zu verstehen und umgekehrt. Ein augenscheinlich logischer und grammatisch korrekter Text kann als inkohärent und sinnlos erscheinen22. Der Leser ist immer imstande, eine oder mehrere Isotopien in einem beliebigen Text zu erkennen oder die identifizierten Isotopien wiederum aufzuheben: es handelt sich hier eher um eine Art Vereinbarung der Textrezipienten darüber, ob der Text als kohärent zu bezeichnen ist oder nicht23. In Bezug auf Metai besteht die Aufgabe eines Philologen nicht nur darin, die Isotopien zu identifizieren, sondern die identifizierten Isotopien nach ihrer Aussagekraft zu klassifizieren, um eine möglichst objektive Entscheidung über ihre Relevanz oder Irrelevanz zu treffen. " Vgl. Jürgen Joachimsthaler, „Donelaitis im literarischen Kontext seiner Zeit", „Annaberger Annalen über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen", Nr. 22, 2014, S. 13-15. 21Algirdas Julien Greimas -Joseph Court6s, Semiotique: Dictionnaire raisonne de la theorie du langage, Paris: Hachette, 1993, S. 197-199. Algirdas Julien Greimas, Semantique structurale: Recherche de methode (3. Ausgabe), Paris: Presses Universitaires de France, 2007, S. 69-101. 22 „It follows that you might derive a coherent discourse from a text with no cohesion in it at all. Equally, of course, textual cohesion provides no guarantee of discourse coherence". (Barbara Seidlhofer, Henry Widdowson, „Coherence in Summary: The Contexts of Appropriate Discourse", in: Wolfram Bublitz, Uta Lenk, Eija Ventola (eds.), Coherence in Spoken and Written Discourse. How to Create it and How to Describe it, Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, 1999, S. 207). 23 Ibidem. 250 251 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 Als Grundlage für die Klassifikation der Diskursisotopien und der Seme wird hier die Theorie der interpretativen Semantik von Francois Rastier gewählt24, die drei Typen von klassenbildenden Semen {semes generiques) unterscheidet: (1) mikrogenerische Seme {semes microgeneriques), (2) mesogenerische Seme {seines mesogeneriques) und (3) makrogenerische Seme {semes makro-generiques). Die Seme des ersten Typs ermöglichen das Erkennen einfachster Diskursisotopien. Zum Beispiel gehören Nachtigall, Storch, Spatz und Eule zur Vögel-Isotopie in Metai. Die Seme des zweiten Typs sind für Isotopien größeren Umfangs relevant. Zum Beispiel gehören Nachtigall, Storch, Krizas, Prickus und Lauras durch das Sem der bescheidenen Ernährung zur Isotopie der Mäßigung. Die Seme des dritten Typs sind zur Bildung der umfangreichsten Isotopien geeignet. Zum Beispiel werden in Metai die Isotopien der Tugendhaftigkeit und Unsittlichkeit unterschieden, die das gesamte Werk durchziehen. Somit gelangen wir bei der Analyse der Narration zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, wie groß der analytische Abstand ist, mit dem wir uns der semantischen Erzählstruktur des Werkes nähern. Darüber hinaus kommt dem Postulat der interpretativen Semantik, gemäß dem einzelne Parameter und Bestandteile des Werkes durch seine Gesamtheit bestimmt werden, aber nicht umgekehrt, eine wichtige Rolle zu. Weder ist der Text eine Summe von Isotopien, noch kann sein Sinn durch die mechanische Aneinanderreihung von Isotopien erschlossen werden. Nur wenn man den Charakter der Textgesamtheit kennt, kann man die Isotopien, auf denen die Kohärenz des Textes basiert, adäquat identifizieren. Wendet man dieses Prinzip auf Metai an, so wird ersichtlich, dass der Versuch, die Gesamtheit von Metai als Summe von Einzelinterpretationen der jeweiligen Jahreszeiten zu konstruieren, zum Scheitern verurteilt ist. Sollen objektive Aussagen über die Kohärenz von Metai formuliert werden, so müssen einige Grundzüge der Gesamtheit a priori festgelegt sein. Dazu gehören die Textgattung, der Textumfang, die Reihenfolge der Teile, d. h. Aspekte, die im Falle von Metai keineswegs als gesichert gelten können. Somit ergibt sich für die Kohärenz-Analyse die Notwendigkeit, unterschiedliche Gesamtheiten von Metai zu modellieren und darauf zu achten, welche Veränderungen im Repertoire der identifizierbaren Isotopien bei der jeweiligen Konstellation zu beobachten sind. Die Analyse der Kohärenz von Metai bedeutet daher eine fortwährende Betrachtung dieser „geheimnisvollen" Erzählung, deren einzelnen Bestandteile in jeweils unter- Frangois Rastier, Semantique interpretative, Paris: Presses Universitaires de France, 1987. schiedlichem Verhältnis zueinander auftreten, das wiederum davon abhängt, wie die Gesamtheit, an der sie beteiligt sind, definiert ist. III. Syntagmatik Im Licht der oben dargestellten Diskursanalyse lässt sich Metai auf dreifache Weise erfassen: a) als ein Werk oder als vier selbstständige Werke; b) als eine geordnete Gesamtheit oder als eine Improvisation; c) als eine feste syntagmati-sche Kette mit eindeutigem Anfang und Ende oder als eine zyklische Struktur ohne fixiertem Anfang und Ende. In diesem Zusammenhang gewinnen die Schlussfolgerungen von Dalia Dilyte und Stephan Kessler hinsichtlich der Gattung von Metai an Bedeutung. Dilyte hat schlüssig dargelegt, dass Metai mit großer Sicherheit als Epos verstanden werden kann und soll. Aus gattungstheoretischer Sicht fließen in Donelaitis' Werk Eigenschaften des heroischen und didaktischen antiken Epos zusammen25. Kessler sah in der Gattung der zeitgenössischen Jahreszeitendichtung einen der verbindenden Aspekte von Metai . Die konkreten gattungsidentifi-zierenden Muster können differieren, aber in jedem Fall bilden sie den Hintergrund, vor dem die Zusammengehörigkeit der vier Gedichtteile deutlich wird. Für unsere Untersuchung sind diese Schlussfolgerungen von großer Bedeutung, sprechen sie doch klar dafür, bei der isotopischen Analyse von Metai das Modell eines epischen Ganzen sowie ein davon abgeleitetes Netz an Text-isotopien zu präferieren, während das Modell separater Gedichte als weniger plausibel erscheint. Dalia Dilyte hat außerdem auf eine sehr wichtige Eigenschaft des Dialogaufbaus in Metai hingewiesen: die Rede einer handelnden Person überlappt sich teilweise mit der Rede einer anderen. Dabei kommt es zu einer spezifischen Überlappung zweier Erzählabschnitte, die Dilyte treffend mit dem Konstruktionsprinzip eines Schuppenpanzers vergleicht2 . In unserer Untersuchung wird dieses Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung ausgebaut und die syntagmatische Naht genannt. Während Dilyte die syntag- Dalia Dilyte, Kristijonas Donelaitis ir Arnika, Vilnius: Vilniaus universiteto leidykla, 2005, S. 205-215. Vgl. auch Elena Tumas, ..Introduction", in: The Seasons by Kristijonas Donelaitis, rendered from the Lithuanian into English verse by Nadas Rastenis, Los Angeles: Lithuanian Days Publishers, 1967, S. 19-20. 26 Stephan Kessler, Die litauischen Idyllen. Vergleichende gattungstheoretische Untersuchung zu Texten aus Polen und Litauen 1747-1825, Wiesbaden: Harrasowitz Verlag, 2005, S. 241-242. 27 Dilyte, Kristijonas Donelaitis ir Antika, op. cit., S. 138. 252 253 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 matischen Nähte nur bei der direkten Rede der handelnden Personen identifizierte, zeigt unsere Untersuchung, dass es sich hier um ein allgemeines Narrationsprinzip von Metai handelt: Eine solche Naht kann zwei beliebige Textabschnitte verbinden und erlaubt, sehr genau den Prozess der Textentfaltung zu beobachten. Ein gutes Beispiel dafür finden wir in SW: Im Abschnitt SW 72-10028 wird von den dreisten Wölfen und dem landwirtschaftlichen Schaden erzählt, den diese Tiere anrichten. Diese Erzählung ist ein Teil der einführenden Landschaftsbeschreibung von SW und gehört zum Äußerungsraum des anonymen Erzählers. Seiner Stimme entspringt auch der nächste Abschnitt, die sog. Jägerepisode SW 101-116: der Erzähler wundert sich über die Untätigkeit der königlichen Jäger und Waldwarte, die nicht imstande sind, die Wölfe auszurotten. Schuld daran tragen aber die unsittlichen Bauern: Sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht, in den königlichen Wäldern zu wildern - Hirsche zu schießen und kostbare Bäume zu schlagen - und die Jäger mit Schnaps und Schinken zu bestechen, sodass diese ganz ihre Pflicht vergessen (SW 108-116). Am schlimmsten findet der Erzähler, dass die Bauern sogar noch stolz auf ihre Schläue sind. In diesem Moment kommt Prickus zu Wort, der das Thema der Wilderer weiterentwickelt (SW 117-164), indem er Wort für Wort die vom Erzähler bereits erwähnten Beispiele wiederholt: die Bauern stehlen in den verbotenen Wäldern, jagen Hirsche und prahlen auch noch unverschämt damit (SW 142-152). Betrachten wir nun alle drei Textabschnitte im Licht der syntagmatischen und paradigmatischen Textbeziehungen. Auf der paradigmatischen Ebene beobachten wir eine klare Wendung der Erzählung: von der Schilderung der winterlichen Landschaft mit heulenden Wölfen kehrt die Narration zu den menschlichen Lastern zurück. Eine deutliche Erzählschwelle liegt dabei zwischen den Zeilen SW 107-108: hier rückt die Erzählung von den jagenden Wölfen zu den wildernden Bauern. Das wird durch die Änderung der isotopischen Struktur der Erzählung signalisiert: die in dem Anfangsteil (SW 1-100) entfaltete Parallelität zwischen der Natur und dem Leben der Menschen wird hier aufgehoben und nun werden ausschließlich die sozialen und ethischen Verhältnisse der Die Zahlen bezeichnen die Zeilennummern des litauischen Textes: um den gekennzeichneten Abschnitt zu identifizieren, eignet sich jede Ausgabe von Metai mit Zeilennummerierung. Hier wird aus folgender Ausgabe zitiert: Kristijonas Donelaitis, Rastai, redakcine komisija Kostas Korsakas (pirm.), Kostas Doveika, Leonas Gineitis, Jonas Kabelka, Kazys Ulvydas, Vilnius: Vaga, Lietuvos TSR moksli} akademija, Lietuvii} kalbos ir literatüros institutas, 1977. Menschenwelt vertieft. Im Text wiederholen sich die Seme, die die institutionelle und soziale Stellung der Menschen signalisieren und somit klare Konturen der sozialen Ordnung bezeichnen: häufig wird mit offiziellen Behördentiteln (jegeres, liesininkai, vartai) operiert, an die königliche Majestät (SW 103-104) und die gesetzliche Autorität (SW 102; 106) erinnert, offen von Straftaten (vergessener Eid SW112, Diebstahl SW 113-114) gesprochen. Der isotopiebildende Hintergrund der Narration wird hier von der Beziehung Natur - Mensch auf die Beziehung Mensch - Mensch verschoben. Zu beachten ist dabei, dass diese isotopische Textwende im Rahmen des zum Erzähler gehörenden Textsegments (SW 1-116) erfolgt: Der Sprecher ist derselbe, das Thema aber geändert. Auf der syntagmatischen Ebene sehen wir hingegen eine klare Textschwelle zwischen den Zeilen SW 116-117, d. h. im Moment, als Prickus das Wort ergreift. Die isotopische Zusammensetzung der Erzählung bleibt dabei aber intakt: Die vom Erzähler im SW 108 unternommene Erzähländerung (Wölfe —* Wilderer) wird von Prickus konsequent fortgeführt (SW 117-164): ein neuer Sprecher kommt zu Wort, das Thema bleibt. Nun können wir deutlich den Mechanismus der Entfaltung der Erzählung sehen: die Änderung auf der paradigmatischen Ebene wird durch die syntagmati-sche Ebene erst mit einiger Verspätung erwidert, so dass beide Passagen sich in einem gewissen Abschnitt überdecken - eben diesen Abschnitt verstehen wir als die syntagmatische Naht: Syntagm. Eb. Erzähler Prickus Paradigm. Eb. Natur und Mensch Soziale Ordnung Syntagmatische Naht Ähnliche Nähte sind in Metai relativ häufig - wir erkennen dieses Verbindungsmodell zweier nebeneinanderstehender Textsegmente z. B. in FF 596-599, wo sich die Rede von Prickus und die des Erzählers durch die Thematisierung der Spinnarbeit verflechten; in AS 8-19, wo das verbindende Sem die körperliche Gesundheit ist; in GH 436-441, wo das Gespräch zwischen Lauras und Buzas durch die Thematisierung der Kleidung miteinander verbunden ist; eine markante syntagmatische Naht ist die Gerichtszene mit Docys in SW 342-378, wo die Erzählung von Gerechtigkeit (Docys ist schuld daran, dass der Brand viele Häuser im Dorf vernichtete) zur Erzählung von gerichtli- 254 255 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 eher Willkür der Herren wird (Docys jagt Krähen aus Hunger und Not, in welche er durch die Herren geraten ist). Im Licht der Textkohärenz ist diese Narrationstechnik sehr aufschlussreich. Es wird deutlich, dass es sich hier um assoziative Textverbindungen handelt, die für die mündliche Äußerung und Dialogführung typisch sind: Nebeneinander befindliche Textsegmente kontaktieren durch die Naht nach dem Schema A^B II B—C. Das erste Segment (A) endet mit einem „Kontaktthema" (B), welches von einem weiteren Segment (C) übernommen wird. Da aber die Erzählung eine andere Richtung nimmt, ist die isotopische Äquivalenz zwischen A und C in unserem Schema nicht vorausgesetzt. Das erinnert freilich nicht an eine strenge, durchdachte Komposition, sondern vielmehr an eine freie, sich ohne strengen Plan entfaltende Erzählung. IV. Paradigmatik Das Untersuchungsfeld des paradigmatischen Aufbaus der Erzählstruktur von Metai weist eine reiche philologische Tradition auf. Unsere Analyse stützt sich auf die von Rimvydas Silbajoris, Tomas Venclova und Saulius Zukas formulierten Aufbauprinzipien von Metai. Laut Silbajoris ist die Semantik dieses Werkes nach dem Prinzip der binären Oppositionen organisiert . Silbajoris macht hier auf die strukturelle Symmetrie der literarischen Welt von Metai aufmerksam. Eine genauere Betrachtung der Erzähl struktur bestätigt diese Hypothese: Gehorsame und eifrige Bauern sind hier den unsittlichen gegenübergestellt (z. B. Seimas, Krizas, Lauras -Plauciünas, Docys, Slunkius, Blekius); auf ermahnende Beispiele folgen abschreckende (z. B. der richtige und falsche Umgang mit Feuer in SW 208-317); die Tugenden kontrastieren mit den Lastern (z. B. die maßvolle Nahrungsaufnahme der Vögel und die maßlose Gefräßigkeit des anonymen Herrn in FF 145-244). Die binär angelegte Erzählstruktur in Metai erweist sich jedoch als ein zu abstraktes Prinzip, das, für sich genommen, kaum als Interpretationsinstrument anwendbar ist. Tomas Venclova und Saulius Zukas haben in ihren Studien zu Donelaitis die Natur dieser Binarität konkretisiert. Venclova weist auf den hierarchischen Aufbau der dargestellten Welt in Metai hin, bei dem es sich vor allem um die vertikale (also paradigmatische) Beziehung der Erzählelemente handelt, und schlägt vor, Metai aus der Sicht der 29 Rimvydas Silbajoris, „Teksto plotmiu santykiai Donelaičio ,Metuose"\ in: Egzodo Donelaitis. Lietuviif išeivii} tekstai apie Kristijonq Donelaitj, sudaré ir parengé Mikas Vaicekauskas, Vilius: Aidai, 2001, S. 403-425. archaischen Poetik des Mythos zu erfassen, in welcher der vertikale Aufbau des Kosmos und die zyklische Erfassung der Zeit die wichtigsten Prinzipien der Entfaltung der Erzählung darstellen30. In der Studie von Tomas Venclova werden zwei überragende Abgrenzungsmomente hinsichtlich des älteren (vor allem litauischen) Interpretationsparadigmas sichtbar: Venclovas Vorschlag, auf die lineare Erfassung der Erzählung zu verzichten und Metai als einen Zyklus zu verstehen, sowie seine Feststellung, dass es sich bei dem Referenzrahmen für die Erzählung in Metai nicht um einen Kalenderzyklus von einem Jahr handelt, sondern um die ewige Wiederholung archetypischer Vorbilder31. Saulius Zukas hat diese Hypothesen weiterentwickelt, indem er den systemischen Gegensatz von Idealität und Realität für die Interpretation von Metai nutzt32. Laut Žukas, besitzt der Autor in Metai ein klares, gefestigtes Wissen vom Idealzustand der zu beschreibenden Welt, ein Idealprojekt, das er stets mit den Verhältnissen des täglichen Lebens der Menschen und Tiere vergleicht. Das ideale „goldene Zeitalter" liegt noch nicht so lange zurück - es war dies die Jugendzeit von Pričkus, Krizas und den anderen älteren Bauern, als die Welt noch sittlich und keusch war. Der scharfe Kontrast, der sich zwischen diesem Ideal und dem aktuellen Zustand der Dinge auftut, soll den Zuhörer zum richtigen Verhalten ermahnen und somit zur Wiederherstellung des Ideals beitragen'". In unserer Untersuchung kommt es uns darauf an, anhand des vertikalen Aufbaus von Metai das grundlegende Primat der paradigmatischen Erzählebene über die syntagmatische zu zeigen. Eine Erzählung dieser Art strebt nach der Stabilisierung der hierarchischen Ordnung in allen Bereichen der dargestellten Welt: Der richtige Glaube wird von der Häresie unterschieden, jeder Person ist ein klarer sozialer Status zugeordnet, tugendhaftes Benehmen wird von Unsitt-lichkeit differenziert usw. Der vertikale Aufbauplan von Metai basiert also auf einer stabilen axiologischen Achse, einem klaren Paradigma der Werte, welche dem Autor und dem Zuhörer es erlauben, das „Richtige" und „Falsche" in jedem Erzählaugenblick zweifellos zu identifizieren. Das syntagmatische Entfaltungsschema der Erzählung spielt dabei eine wesentlich kleinere Rolle -wichtig ist die eindeutige Einordnung eines Erzählelementes in den oben ge- Tomas Venclova, „Erdvé ir laikas Donelaičio ,Metuose"\ in: Tomas Venclova, Vilties formos, Vilnius: Lietuvos rašytoju sajungos leidykla, 1991, p. 261-266. 31 Ibidem, 265-266. 32 Saulius Žukas, „Idealusis Kristijono Donelaičio Mety polius", in: Saulius Žukas, Zmogaus vaizdavimas lietuviif literatúroje, Vilnius: Baltos lankos, 1995, p. 73-91. 33 Ibidem, S. 74-75. 256 257 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 nannten hierarchischen Aufbau der poetischen Welt, die Erzähllogik auf der syntagmatischen Ebene ist dagegen viel schwächer ausgeprägt. Die Prinzipien der dominierenden Paradigmatik und der binären Erzählstruktur ermöglichen uns, einige „Kohärenzstörungen" in Metai zu erklären. In FF merkt jeder Zuhörer die Inkonsequenz in der Passage von dem sich überfressenden Herrn (FF 202-244). Die Situation ist aus syntagmatischer Sicht seltsam: davor geht es um eine allegorische Zusammenkunft von Vögeln (FF 155-201), wobei keine Erklärung gegeben wird, wie die Szene von dem gefräßigen Herrn mit den Vögeln zusammenhängt. Wo finden diese beiden Szenen statt? Wer ist der sterbende Mann? Wird die allegorische Erzählung fortgesetzt oder das Genre gewechselt? Der syntagmatische Gang der Narration bleibt unklar. Aber im Lichte der vertikalen Erzählorganisation wird offensichtlich, dass es sich hier um einen didaktischen Kontrast zwischen der Mäßigung und der Un-mäßigkeit handelt: die Vogelwelt entspricht dem Idealzustand, der sterbende Herr dagegen ist ein Beispiel für unsittliches Benehmen34. Der Erzählparameter Zeitraum und die Identität des Herrn sind hier irrelevant. Die vertikal-binäre Kompositionslogik des Weltaufbaus in Metai kann ebenfalls die paradigmatische Ebene der Erzählung wesentlich beeinflussen. In SW 117-207 entfaltet sich ein Gespräch zwischen Prickus, Enskys und Seimas, in dem Litauer und andere Völker in Bezug auf ihre Tugendhaftigkeit verglichen werden. Die Redner äußern verschiedene Meinungen über die angeblich höhere Sittlichkeit der Litauer, wobei Seimas die Situation in rein idyllischen Tönen beschreibt: die Litauer sind in jeglicher Hinsicht beispielhaft, deswegen lobt „jeder Mensch" Litauen. Leute aus der ganzen Welt, darunter auch Deutsche und Franzosen, sind nun gekommen, um sich die Litauer anzuschauen -sie lernen bereits litauisch, essen nach litauischer Art und tragen litauische Kleidung (SW 182-192). Solch eine Verbrüderung tugendhafter Völker finden wir nirgendwo sonst in Metai. Prickus und Enskys sehen dies völlig anders - ihrer Meinung nach ist es bei den Litauern um die Sittlichkeit keinesfalls besser bestellt als bei anderen Völkern: die heutigen Litauer wildern, stehlen, saufen und prahlen noch damit 34 Zu dieser Interpretation und zur Beziehung „These - Illustration" im allgemeinen vgl. Eugenija Ulcinaite, Albinas Jovaisas, Lietuviif üteratüros istorija, XIII-XVIII amziai, Vilnius: Lietuviu. literatüros ir tautosakos institutas, 2003, S. 450; Albinas Jovaisas, Kristijonas Donelaitis: Mazosios Lietuvos dainius, Kaunas: Sviesa, 1992, S. 68. Vytautas Vanagas, Realizmas lietuviif literatüroje, Vilnius: Lietuvos TSR Moksli; akademija, Lietuviu. kalbos ir literatüros institutas, Vaga, 1978, S. 69-71. (SW 124-153) . Im Allgemeinen werden in Metai die Beziehungen zwischen Litauern und anderen Völkern vor allem als von gegenseitigem Misstrauen geprägt dargestellt und nicht als harmonisches Beisammensein gezeigt36. Die optimistische Äußerung von Seimas hat also in dem Isotopienetz von Metai kein Äquivalent - sie ist in diesem Sinne unikat und wirkt in der allgemeinen Erzählstruktur seltsam. Berücksichtigen wir aber das Prinzip der vertikalbinären Strukturierung der dargestellten Welt, erklärt sich diese Textstelle recht schnell: da sich Prickus und Enskys vorher sehr missbilligend über die Tugendhaftigkeit der Litauer und anderer Völkern geäußert haben (SW 117-181), bedarf die Erzählstruktur eines symmetrischen Ausgleichs, und dieser wird durch Seimas' paradoxe Rede geboten. Seine Äußerung hat also eine reine Kompositionsfunktion, die sich direkt aus dem vertikalen Aufbau der Erzählung ableitet: jeder negative Fall soll in der symmetrischen, binärkonstruierten Welt von Metai durch ein ideales Beispiel ausgeglichen werden, selbst auf Kosten der Plausibilität der Äußerung. Aus diesen Erwägungen wird ersichtlich, dass in der vertikalen Strukturierung von Metai dem Ideal nicht die Realität (wie es Zukas formulierte), sondern ein ebenso abstraktes Anti-Ideal gegenübergestellt wird. Das Benehmen, welches mit dem vom Autor postulierten Ideal einhergeht, wird als tugendhaft bezeichnet, alles was mit dem Ideal im Konflikt steht, gehört dagegen zum Laster: Die Erzählung oszilliert zwischen diesen Spannungspolen. Daher ist es problematisch, über die Realität in diesem Werk zu sprechen: Die Erzählung stellt die Welt dar, wie sie sein soll (d. h. tugendhaft) oder wie sie nicht sein darf (d. h. unsittlich), und nimmt nur wenig Rücksicht darauf, ob die dargestellten Ereignisse „realistisch" wirken37. Metai ist ein durch und durch stilisierter, auf die Darüber sind sich Prickus und Enskys einig, nur ihre Bewertung des Benehmens der Litauer differiert. Prickus hält die Litauer für von Natur aus anderen Völkern moralisch überlegen (SW 134-141) und fasst deshalb ihre sinkende Sittlichkeit als eine Gefahr von apokalyptischem Ausmaß auf (SW 153-160). Enskys hingegen räumt den Litauern keinen besonderen Platz unter den Völkern ein (alle stehlen, warum dann nicht auch die Litauer? SW 165-176) und bleibt von Prickus' moralisierenden Leidenschaften unberührt. 36 Vgl. wohl das sehr heftige Beispiel in SW 530-541, wo Lauras sich über die fremde Unterdrückung beklagt und den „dummen Franzosen" und „fetten Schweizer" rät, Litauen in Ruhe zu lassen und dort zu bleiben, wo sie ausgebrütet wurden und Frösche zu fressen erlernt haben. 37 Vgl. z. B. die Szenen mit Docys in GH 651-694 und SW 695-746, wo er so heftig drischt, dass dabei Häuser, Wälder und Berge einstürzen; nichtsdestoweniger geht es im realistischen Code weiter: die Nachbarn versuchen, einen Prozess gegen Docys in Königsberg anzustrengen (GH 676-677) und verprügeln ihn sogar wegen des angerichteten Schadens (GH 711-746). 258 259 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 Übermittlung von Beispielen und Vorbildern konzentrierter Text, in dem die Grenze zwischen dem Realistischen und Unrealistischen einfach irrelevant ■ ,38 ist . Bei der Komposition von Metai erweist sich die vertikale Dimension der dargestellten Welt als eines der grundlegenden Aufbauprinzipien der Erzählung. In Metai wird über Dinge geredet, die durch diese vertikale Achse axiologisch verankert sind und unveränderlich bleiben sollten - von Dingen, die sich ewig wiederholen. Alles neue, jede Veränderung wird mit größter Vorsicht und Unbehagen vernommen. Deshalb auch weist die Erzählung selbst kein durchgängiges Sujet auf, keine einheitliche Entwicklungslinie, weder innerhalb einzelner Teile noch auf der makrokompositionellen Ebene. Die Erzählung von Metai kreist um die immer gleichen Probleme und Dinge: Um Tugend und Unsittlichkeit in allen ihren Ausprägungen. Eines der besten Beispiele für diese Art der Entfaltung der Erzählung ist der Beginn der FF (1-154). Betrachten wir diesen Textabschnitt aus einer gewissen analytischen Distanz, so bemerken wir drei Textisotopien, die ihn auf der mesogenerisehen semantischen Ebene konstituieren: die Gottesfurcht, der Arbeitseifer und die Mäßigung. Alles, was in diesem Erzählungsabschnitt geschieht, gehört zu einer dieser Isotopien: Die Freude der erwachenden Natur und der Vogelgesang (FF 1-79) ist vor allem Lob der göttlichen Gnade39; die Familie der Störche (FF 43-64) ist eine Allegorie auf den Arbeitseifer, die Gottesfurcht und die Bescheidenheit; die Nachtigall (FF 80-144) ist nichts anderes als eine dichterische Verkörperung des Heiligen Geistes und zugleich ein Beispiel für die tugendhafte Mäßigung (bescheidenes Kleid, einfaches Futter)40. Im erwähnten Abschnitt gibt es aber kein Sujet im eigentlichen Sinne -die Ereignisse bilden auf der syntagmatischen Ebene weder eine chronologi- Vgl. Joachimsthaler, op. cit., S. 26. Es ist aber problematisch, identitätsbezogene Folgerungen aus dieser Stilisierung abzuleiten: „Die Litauer der Metai [...] sind eine Stilisierung intim nah beobachteten Volks (dem der Beobachter selbst nicht zugehört) [...]", ibidem, S. 24). Der offensichtliche analytische Abstand, eine klar sichtbare Distanz zwischen dem Autor (oder Beobachter) und der beschriebenen Gemeinde (eher als dem Volk) lässt sich nicht direkt auf die extra-literarische Realität transponieren. Symptomatisch ist dabei, dass die litauische Philologie diesen Abstand nur sehr ungern reflektiert und die litauische Identität von Donelaitis für gesichert hält, während die deutschsprachige Philologie systematisch die deutsche Seite seines Lebens und Schaffens betont. Wie auch immer, die adäquate Beantwortung der Frage nach der sprachlichen und kulturellen Identität von Donelaitis liegt irgendwo zwischen diesen Positionen. 39 Vgl. eine theologische Interpretation dieser Passage: Silbajoris, op. cit., S. 411-413. 40 Mehr dazu vgl. Seferis, Kristijono Donelaicio „Metif" rislumas, op. cit., S. 64-70. sehe noch eine logische Ereigniskette. Die Erzählung kreist um die drei wichtigsten Themen und bewegt sich nur langsam weiter: Es bietet sich hier der Vergleich mit einem horizontalen spiralförmigen Vektor an. Diese vertikale hierarchische Strukturierung der dargestellten Welt in Metai ist ein Charakteristikum, das es erlaubt, die vier Jahreszeiten als ein einheitliches episches Bild zu erfassen und nicht als vier eigenständige Gedichte. Der Aufbau der paradigmatischen Erzählebene ist in allen vier Teilen identisch: Es handelt sich um eine strenge Hierarchie der Textisotopien, die alle von dem grundlegenden Gegensatz der Tugend und der Unsittlichkeit herzuleiten sind. Alles Geschehen in Metai kreist um diese vertikale Achse. Daraus entsteht der starke Eindruck, dass Metai -wie bunt, chaotisch und inkonsequent das Werk auf dem ersten Blick erscheinen mag - erstaunlich einheitlich ist. Diese Kohärenz resultiert eben aus der hierarchischen Stabilität der paradigmatischen Erzählebene. V. Zur Mikrokomposition Ein weiteres Ergebnis unserer Analyse lautet, dass in jedem Teil von Metai einige größere Erzählblöcke zu identifizieren sind. Ein Erzählblock ist ein Textabschnitt, der durch die Konvergenz der syntagmatischen und paradigmatischen Strukturelemente definiert ist: Er zeichnet sich sowohl durch die einheitliche Kommunikationssituation als auch durch ein kohärentes Isotopienetz aus. Der Großteil des Textes in Metai wird durch solche Blöcke abgedeckt, aber nicht gänzlich: Neben diesen großen Bausteinen der Erzählung können wir auch kleinere, mehr oder weniger unabhängige Erzählabschnitte ausmachen. In FF sind folgende Erzählblöcke bedeutend41: Erzählung über die Vögel (FF 1-244), Erzählung über die Stände und die Tugendhaftigkeit (FF 80-335), Erzählung von der Not und Arbeit (FF 336-533) und Erzählung von der Mäßigung (FF 534-660). In AS sind die Erzählung von der Gesundheit (AS 1-95), von den Schimpfern (AS 96-135), zwei Erzählungen von den Beziehungen zwischen den Ständen (AS 136-433, 649-714), Erzählung über Plauciünas (AS 41 Die Identifikation einzelner Erzählblöcke ist das Ergebnis einer diskurs-isotopischen Interpretation von Metai und kann deshalb nie völlig frei von der Subjektivität des Forschers sein. Wir halten unser Repertoire an Blöcken nicht für die einzige Möglichkeit: Ihre Anzahl und Grenzen können differieren. Trotzdem hat die hier angegebene Liste von Erzählblöcken zumindest teilweise objektiven Charakter. Sie soll in erster Linie dazu dienen, das Prinzip des Erzählaufbaus in Metai zu veranschaulichen: Die Erzählblöcke sind nichts anderes als selbstständige Teilerzählungen, die in einer bestimmten Weise in eine übergeordnete Struktur eingebettet sind. 260 261 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 434-542) und Erzählung über die ausstehenden Arbeiten (AS 543-648) zu erkennen. In GH kann man die einleitende Landschaftsschilderung (GH 1-81), Hochzeit (GH 82-650), Erzählung über Docys (GH 651-772) und Erzählung vom Ende der Welt (GH 773-912) identifizieren. In SW gibt es die einleitende Naturbeschreibung (SW 1-107), Erzählung von der List der Bauern (SW 108-207), Erzählung vom Feuer (SW 182-378), Erzählung von der (Un-) Gerechtigkeit (SW 357-527) und die Schlussrede von Seimas (SW 468-682). Die syntagmatischen und paradigmatischen Baupläne dieser Teilerzählungen zeichnen sich durch gegenseitige Verschiebungen aus: Ein neuer Strang von Isotopien auf der paradigmatischen Ebene löst erst nach einiger Zeit eine Reaktion auf der syntagmatischen Ebene in Form einer veränderten Kommunikationssituation aus und umgekehrt, die veränderte Kommunikationssituation bewirkt erst mit Verspätung eine Veränderung im paradigmatischen Erzählplan. Die Blöcke folgen also nicht streng aufeinander, sondern überlappen sich nach dem Prinzip der syntagmatischen Naht und verflechten sich zu einer fließenden, sich „organisch" entwickelnden Haupterzählung. In Anbetracht dessen, dass die großen Erzählblöcke selbst komplexe Erzählstrukturen darstellen, die aus weiteren kleineren narrativen Einheiten bestehen, muss man in der Mikrokomposition von Metai zwei Aspekte getrennt betrachten: (a) die innere Komposition einzelner Erzählblöcke und (b) das Verhältnis der Blöcke zueinander im Rahmen einer der vier Jahreszeiten. (a) Innerhalb der einzelnen Blöcke walten strenge Kompositionsprinzipien. Die Analyse zeigt, dass z. B. die Episode mit der Nachtigall (FF 80-144) eine vollkommene Komposition aufweist und durch die vorangegangenen Textabschnitte vorbereitet wird. Das Gesang der Vögel in den Textabschnitten FF 1 -42 und 65-79 nimmt ständig an Intensität zu: das dient zur Intensivierung des metaphysischen Erlebens von Gottes Nähe, seiner Gnade und Allmacht. Die Stimme der Nachtigall ist der kompositioneile Gipfel dieses Erzählabschnitts: Die Nachtigall - Königin der Vögel - fängt ihr Lied erst dann an, wenn alle Vögel und Menschen schon still sind, ihr Gesang ist die reine Epi-phanie der göttlichen Liebe und Harmonie. Im Hinblick auf die Komposition sind auch zwei dialogische Syntagmen in FF nennenswert: Prickus —> Slunkius —> Prickus (FF 409-477) und Prickus —> Blekius —> Prickus (FF 544-598). Es ist offensichtlich, dass Donelaitis einen Großteil der FF als didaktische Dialoge mit zwei unsittlichen Bauern komponiert hat: Slunkius ist ein Faulenzer und Blekius hat kein Maß beim Essen. Die gekennzeichneten Gespräche sind also als einfache Ketten kontrastierender Textabschnitte komponiert: positive Ermahnung —* negatives Beispiel —»■ positive Belehrung. Der Textabschnitt GH 339^37 ist ebenfalls in ähnlicher Weise als eine Kontrastkette komponiert. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen drei Personen - dem anonymen Knecht des Bleberis (Bleberio tarnas, GH 339-353), dem Erzähler (GH 354-392) und Lauras (GH 393-437). Jede Person äußert sich zum Thema der Lebensmittelvorräte und ihrer Konsumierung: Wir erkennen hier die Isotopie der Mäßigung, wobei die Erzählung zwischen den semantischen Feldern der Fülle und des Mangels schwankt. Das auf dem semantischen Kontrast basierende Verbindungsschema ist offensichtlich: Knecht des Bleberis (GH 339-353) Erzähler (GH 354-370) Erzähler (GH 371-392) Lauras (GH 393 423) Lauras (GH 424-437) Viel Fleisch vorrätig Erinnerung an anstrengende Arbeit und Not Eine Apotheose des Fleisches Ermahnung zur Mäßigung Kritik am verschwenderischen Leben Fülle Mangel Fülle Mangel Auch die Erzählung vom Feuer (SW 208-317) lässt eine durchdachte Struktur erkennen. Dieses Mal baut die Komposition auf dem Prinzip der Illustration auf: Prickus hält vor den Bauern eine belehrende Rede über Nutzen und Gefahren des Feuers und gibt überzeugende Beispiele für beide Aspekte. Er erwähnt zwei Brände in Königsberg (SW 241-242) sowie viele anonyme Bettler, die durch Feuer alles verloren haben (ubagais einantys nabageliai, SW 243-244), um sogleich an das tragische Schicksal von Krizas zu erinnern, dessen Haus Docys voriges Jahr niedergebrannt hat (SW 255-274). Plötzlich hören alle einen schrecklichen Knall: Durakas (ein Knecht von jenem Docys) jagt Krähen und verursacht einen verheerenden Brand im Dorf (SW 300-317). Das Erzählschema basiert auf dem Verknüpfungstyp „These —> Illustration", wobei jedes dieser Elemente aus zwei weiteren untergeordneten Mikro-isotopien besteht: Die Thesen thematisieren in kontrastiver Weise (1) die Nützlichkeit und (2) die Gefahr des Feuers. Die Beispiele der Brände sind chronologisch angeordnet: (3) die Brände in der Vergangenheit (Königsberg, anonyme Bettler, Krizas) und (4) der Brand in der erzählerischen Gegenwart (Docys): 262 263 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 Die Erzählung vom Feuer Thesen Beispiele 1) Die Nützlichkeit 2) Die Gefahr des des Feuers Feuers 3) Die Brände in der Vergangenheit 4) Der Brand in der Gegenwart Prickus (SW208-299) Erzähler (SW 300-317) Ob Donelaitis intuitiv oder ganz bewusst die Erzählung in dieser Weise komponierte, bleibt eine offene Frage, aber die angeführten Beispiele lassen kaum Zweifel daran, dass die inneren Erzählblöcke von Metai eine klare auktoriale Kontrolle verraten und nach bestimmten Modellen syntagmatisch strukturiert sind. (b) Nach der gängigen Annahme sind die inneren Erzählblöcke in Metai in Anlehnung an Naturprozesse und bäurische Arbeitsvorgänge aufgebaut. Donelaitis habe die litauische Natur und das Leben der Bauern zu allen Jahreszeiten dargestellt. Eine solche Auffassung der Komposition von Metai geht auf Rhesa zurück und wurde von der Donelaitis-Forschung des 20. Jahrhunderts 42 übernommen . Die makrokompositionelle Analyse von Metai zeigt jedoch, dass diese Betrachtungsweise nicht exakt ist. Die punktierte Natur- und Arbeitslinie verläuft unscheinbar im Hintergrund der Erzählung. Sie erklärt weder die Reihenfolge der großen Erzählblöcke noch die Logik ihres Zusammenhanges. Es gibt in Metai kaum unmittelbare Darstellungen der bäurischen Arbeiten, und selbst wenn über die Arbeit gesprochen wird, so geschieht es nicht direkt (es wird beispielsweise zur Arbeit angeregt oder an noch anstehende Arbeiten erinnert). Das Thema der Arbeit dient als Tarnung für die auf einer ganz anderen Ebene angesiedelte Narration, die von Gottesfurcht, Mäßigung, Gehorsamkeit und weiteren Tugenden handelt. Die Erzählung in Metai wird nicht durch die Parallelität von Natur und Arbeit vorangetrieben, sondern sie entfaltet sich über die ethischen Zielsetzungen der Erzählung und die vertikale Spannung auf dem axiologischen Erzählplan. Nicht die Beschreibung des Frühlings bietet eine gute Gelegenheit, über Gottesfurcht, Arbeitseifer und Mäßigung zu sprechen, sondern umgekehrt, der Dichter sucht zum Ausdruck dieser Tugenden nach einer angebrachten Kompositionsform und findet sie im fröhlichen Frühlingsgesang der Vögel (z. B. FF 42 Rhesa, op. cit., S. X-XI. Silbajoris, op. cit„ S. 404-405. Wohl der konsequenteste Befürworter dieses Kompositionsmodells war Leonas Gineitis, vgl. Leonas Gineitis, Kristijonas Donelaitis ir jo epocha, Vilnius: Valstybine politines ir mokslines literatüros leidykla, 1964, S. 300-303. 1-79). Donelaitis' Absicht ist es ebenfalls nicht, in AS Szenen einer Mistausfuhr zu beschreiben, in die das Bild des guten Amtsrates als sekundäre Erscheinung „hineingerät" (AS 136-304). Ganz im Gegenteil, sein Anliegen ist es, soziale Ungerechtigkeit zu verbalisieren, und dafür nutzt er das allegorische Potential der Mistausfuhr-Szene (vgl. AS 267-292). Desgleichen ist es nicht sein Ziel, die Arbeiten des Heumähens in AS zu beschreiben und im Hintergrund auch noch den Säufer Plauciünas darzustellen, sondern es stehen vielmehr Plauciünas' Unsitten im Fokus der Darstellung, und das Heumähen bietet dafür lediglich die Kulisse (AS 434-529). Es wäre absurd anzunehmen, die Erzählung von Docys in GH diene in erster Linie der Beschreibung des Dreschens. Docys' groteske Arbeit stellt lediglich das Bühnenbild dar, vor dessen Hintergrund über seine Laster gesprochen wird (GH 651-772). Die Abfolge der großen Erzählblöcke in SW kann nur durch den Mechanismus der narrativen Überlappung und die Assoziationslogik des gesprochenen Diskurses erklärt werden (A —> BIIB —> C): Die Suche nach einer durch die Naturerscheinungen und Arbeitsprozesse bedingten Syntagmatik ist in diesem Teil von Metai aussichtslos. Die Analyse der Mikrokomposition bietet demzufolge die Grundlage für eine neue Interpretation. Weder die Natur und noch die Arbeit gehören zum kompo-sitionellen Grundgerüst von Metai. Vielmehr bilden sie einen pragmatischen Kompositionshintergrund. Jede Jahreszeit umfasst ein potentielles Spektrum von Naturerscheinungen und Arbeiten; in die Erzählung werden jedoch lediglich diejenigen Elemente aufgenommen, die Donelaitis zur Behandlung der Probleme der Sittlichkeit benötigt. Erst an dieser Stelle kommt die wirkliche Komposition zustande, die an der spezifischen Auswahl der Natur- und Arbeitsprozesse erkennbar ist. Somit besteht jeder Teil von Metai aus einer Bandbreite von sittlichen Fragen: Bisweilen erfolgt deren Aufschlüsselung durch die Thematisierung der Arbeit oder der Natur, es handelt sich aber keinesfalls um eine konsequente Beschreibungen von Arbeits- oder Naturprozessen. VI. Zur Makrokomposition In Donelaitis' Poetik ist ein Erzählmodell erkennbar, das für den gesprochenen Diskurs typisch ist: Der Text wird durch Kontrastierungen und assoziative Verbindungen zusammengefügt und hat keine strenge Komposition. Auf der syntagmatischen Ebene ist ihm eine natürliche Asymmetrie und Sprunghaftig-keit eigen. Metai stellt ein organisches Ganzes dar, das von selbst gewachsen und nicht von Donelaitis nach strengen Kompositionsprinzipien gebaut zu sein scheint. Ein komplexer Blick auf das gesamte Textkorpus von Donelaitis sowie 264 265 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 einige Aspekte der Mikrokomposition seiner Erzählstruktur stützen diese Hypothese: Die vorhandenen Vorstudien zu Metai (Pričkaus pasaka apie lietuviškq svodbq und Fortsetzung), Donelaitis' Briefe und die aus ihnen ersichtliche Tradition der mündlichen Textüberlieferung, einige Kompositionsmängel43 und die Technik der syntagmatischen Naht - all das zeugt klar davon, dass Metai im Laufe des literarischen Entstehungsprozesses ständigen Veränderungen unterlag und Stück für Stück wuchs, ohne dass ein durchdachter Plan für diesen Prozess erkennbar wäre. Im Unterschied zu einer solchen „von selbst" erfolgenden Entfaltung der Bilder auf der syntagmatischen Ebene bleibt die paradigmatische Struktur der poetischen Welt konstant und basiert auf der oben besprochenen vertikalen Spannung von Tugendhaftigkeit und Unsittlich-keit. Eine Tendenz ist jedoch sichtbar: Je kleiner ein Erzählelement in Metai ist, desto stärker kommt die Kontrolle durch den Autor zum Ausdruck. Am stärksten ist sie auf der phonetischen und metrischen Ebene zu spüren, wo jede Zeile mehrmals durchdacht und korrigiert wurde, damit ihre Lautung und Akzentuierung den Versregeln des Hexameters und der litauischen Betonung am besten entspricht44. Die Metrik und Mikrosemantik in Donelaitis' Poetik ist bis zur Vollkommenheit gereift, beispielsweise zu Beginn von GH oder SW45. Begibt man sich auf die oberen Kompositionsebenen, so lässt die auktoriale Kontrolle merklich nach: Es ist offensichtlich, dass die Anordnung der großen Erzählblöcke in den einzelnen Teilen von Metai kaum das Ergebnis einer durchdachten Strategie sein kann. Jeder der vier Teile von Metai ist also eine organische, asymmetrische, nach den Prinzipien des gesprochenen Textes gewachsene Einheit, die aber aus kleineren Blöcken aufgebaut ist, in denen wiederum die auktoriale Kompositionskontrolle wesentlich stärker ausgeprägt ist. Daraus resultiert eine Eigenheit von Metai auf der Rezeptionsebene: Jeder kann einzelne Szenen aus dieser Erzäh- Es gibt z. B. zwei identische Endzeilen zur Hochzeit in GH 339 und 651. In GH kommen Slunkius und Peleda zur Hochzeit (GH 231-256), aber Enskys erzählt etwas später von ihnen, als ob sie nie da gewesen wären (GH 591-650). Die Bauern halten denselben Rat, einmal bei Krizas, einmal bei Plauciünas (SW 165, 307). Völlig unklar ist die kompositio-nelle Anknüpfung zwischen FF 244 / 245. 44 Aleksas Girdenis, „Metij hegzametras", in: Darbai apie Kristijonq Donelaitj, sudare ir redagavo Leonas Gineitis, Aigis Samulionis, Vilnius: Lietuvos Mokshj akademija, Lietuvii) literatüros ir tautosakos institutas, Vaga, 1993, S. 60-96. Dalia Dilyte, Kristijono Donelaicio pasakecios, Vilnius: Lietuvii} literatüros ir tautosakos institutas, 2014, S. 77-124. 45 Für eine detaillierte Analyse vgl. Seferis, Kristijono Donelaicio „Metu" rislumas, op cit., S. 162-164, 204-207. lung leicht nacherzählen (z. B. die Abenteuer des Plauciünas in Königsberg oder die Klage des Krizas über faule Knechte), es ist aber schwierig, die genaue Stelle einer konkreten Szene in der Gesamtreihenfolge der Erzählung zu benennen (z. B. welche Episode steht früher in FF - die Storchenfamilie oder die Nachtigall?). Wenn wir uns mit diesen Ergebnissen der Analyse der Mikrokomposition auf die Ebene der Makrokomposition begeben, begegnen uns ähnliche Gegensätze. Einerseits neigt die Gesamtheit von Metai zu einer gewissen syntagmatischen Anordnung: So werden üblicherweise FF als der Beginn und SW als der Schluss der Erzählung identifiziert. Meistens werden dafür drei Gründe angegeben: Erstens wird diese Anordnung seit Rhesa als „natürlich" angenommen, entspricht sie doch unserem kulturellen Verständnis, in welchem der Frühling für der Beginn des Kalenderzyklus steht und der Winter für sein Ende. Zweitens stirbt im Winter Prickus - die einzige Figur von Metai, die in allen vier Teilen agiert: Es scheint deshalb logisch, SW für den Schlussteil von Metai zu halten46. Drittens wird Seimas' Schlussrede in SW 542-682 ihres philosophischen Tons wegen für den Endpunkt des gesamten Werkes (und nicht nur von SW) verstanden47. Auf der anderen Seite gibt es überzeugende Argumente gegen eine solche Auffassung von Metai. Zwar wird die Lebenslinie von Prickus in der traditionellen Lesesequenz logisch angeordnet, aber die Lebenslinien zweier anderer wichtiger Figuren - Krizas und Docys - verkomplizieren sich dabei umso mehr. In AS tritt Krizas als ein reicher Bauer auf, der sich über die faulen Knechte und Mägde beklagt (AS 314-433); in GH richtet er eine große, üppige Hochzeit für seine Tochter aus (GH 82-650). Im krassen Gegensatz dazu steht aber Prickus' Erzählung über Krizas in SW 255-278, wo wir erfahren, dass Docys das Haus von Krizas voriges Jahr angezündet und somit seinen Nachbarn zum Bettler gemacht habe. Offensichtlich beziehen sich die Ereignisse, wie sie in AS, GH und SW geschildert werden, nicht auf ein und dasselbe Kalenderjahr, denn ein seit dem „vorigen Jahr" verarmter Krizas wäre kaum imstande, „heuer" die Hochzeit für seine Tochter auszurichten. Ähnlich verhält es sich mit Docys. Einerseits behauptet Lauras, Docys habe durch seine Trunksucht sein ganzes Gut verloren und nun wandere er als Bettler umher (GH 399-401). Etwas weiter sehen wir aber Docys in seiner eigenen Scheune dreschen (GH 651-694): Es ist offensichtlich, dass er immer noch sein Gineitis, „Jvadas", op. cit.. S. 14. Ibidem. 266 267 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 Haus und Land besitzt. Das wird auch in SW bestätigt, wo Dočys es sich immer noch leisten kann, einen Knecht zu haben (SW 309-313). In GH erfahren wir auch von seinen Abenteuern „im vorigen Jahr", wo er von Plauciünas sicherlich als ehrwürdiger Gast und nicht als Bettler empfangen wurde (GH 695-704). Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, dass die vier Teile von Metai nicht als chronologische Jahreszeitenabfolge eines Kalenderjahres verstanden werden können. Die in Metai dargestellten Lebensabschnitte von Pričkus, Krizas und Dočys erstrecken sich über mehrere Jahre und bleiben in ihren logischen Beziehungen völlig klar, solange wir das Auftauchen der Szenen in der Erzählung nicht mit der „tatsächlichen" Chronologie des „Lebens" der einen oder anderen Person gleichsetzen. Für die chronologische Struktur von Metai eignet sich der Vergleich mit einem Familienalbum: Die Sequenz der Bilder ist festgelegt, sie stimmt aber mit dem Leben der abgebildeten Personen nicht überein. So kann man in Metai zuerst von dem reichen und gutherzigen Krizas hören und erst dann sein tragisches Ende erfahren. Ähnlich bei Dočys, den die Nachbarn zuallererst als einen tumben Säufer erinnern, dann aber auch von seinem elenden Ende zu erzählen wissen. Aus dieser Perspektive ist auch der Tod von Pričkus in SW keinesfalls für den syntagmatischen Aufbau von Metai bestimmend: Die Ereignisse aus seinem „Leben" können in beliebiger Abfolge erzählt werden und das Ende seines „Lebens" ist nicht das Ende der Erzählung. Auch das dritte der oben erwähnten Argumente für eine lineare Auffassung von Metai wirkt nicht überzeugend, d. h. die Schlussrede von Seimas in SW 542-682. Bereits Rhesa stellte fest, dass jeder Teil des Gedichts mit der Aufforderung endet, sich auf die kommende Saison vorzubereiten48, vgl. FF 659-660, AS 713-714, GH 909-912, SW 673-682. Hiermit wird, unserer Meinung nach, die Einheitlichkeit von Metai auf der syntagmatischen Ebene signalisiert: Vier Erzählteile reflektieren einander und signalisieren somit, Teile einer größeren Struktur zu sein: Der Schlussabschnitt eines Teils leitet gleich den nächsten ein. Wichtig ist aber, dass dieser Vorgang auch am Ende von SW stattfindet: Dieser Teil schließt die Narration nicht ab, sondern regt den Anfang eines neuen Erzählzyklus an. Die Funktion von Seimas' Rede am Ende von SW ist mit der Funktion der finalen Abschnitte der restlichen Teile des Gedichts identisch. An mehreren Stellen dieser Rede wird des Frühjahrs und Sommers erinnert (SW 610-614, 620-621, 657-665, 675-676), wobei besonders die Zeilen SW 662-66349 einen direkten Bezug zu FF haben (FF 1-4). Das Gedicht Metai Rhesa, op. cit., S. X. Nes saulelě vél pusnynus praděda gandint/Ir jau vieversiai linksmai lakstydami čypsi. geht mit der Beschreibung des Winters nicht zu Ende. Nach der Lektüre dieses Teils kann wieder der Teil über den Frühling aufgeschlagen werden, und so kann es endlos weitergehen. Deshalb scheint uns die Interpretation der Seimas-Rede in SW als Gesamtschluss von Metai, wie es Leonas Gineitis vorschlägt, nicht überzeugend50. Unsere makrokompositionellen Erwägungen könnte man folgendermaßen zusammenfassen. Die traditionelle Auffassung von Metai, in der Erzählung einen festen Anfangs- und Schlusspunkt zu identifizieren, die Erzählsequenz mit der Chronologie der dargestellten Ereignisse gleichzusetzen und dabei die vier Jahreszeiten nur im Rahmen eines einzigen Kalenderjahres zu betrachten, erweist sich als inadäquat. Der Versuch, Metai in dieses Prokrustesbett hineinzu-zwingen, führt unausweichlich zu Verwirrung51. Frühling, Sommer, Herbst und Winter folgen in Metai einander syntagmatisch (das ist durch die Verbindung der Endpassagen jedes Teils mit der folgenden Jahreszeit signalisiert), nicht aber chronologisch: Es sind dies literarische, verallgemeinerte Abbildungen der Jahreszeiten, die durch die mythologischen Zeitkategorien (irgendwann früher, irgendwann jetzt, irgendwann später) verbunden sind und nicht die Ereignisse eines bestimmten Kalenderjahres darstellen. Donelaitis hat weder den Anfang noch den Schluss seines Werkes angedeutet, der Text selbst gibt keine Anhaltspunkte für deren Bestimmung, weswegen es sinnvoll ist, Metai für einen geschlossenen Zyklus ohne Anfang und Ende zu halten52. So gesehen, ist es irrelevant, an welcher Stelle wir die Lektüre von Metai beginnen, wichtig ist nur, dass die Lektüre den vollen Kreis der vier Jahreszeiten umfasst. Durch eine solche zyklische Lektüre (welche theoretisch nie zu Ende geht) erschließen sich der Sinn der Narration von Metai und ihre spezifische Dynamik. VII. Schlussfolgerungen Die Hauptpunkte dieses Artikels lassen sich wie folgt zusammenfassen: Metai stellt eine kohärente Ganzheit dar, deren makrokompositionelle Parameter jedoch nicht streng einem von Donelaitis maßgeschneiderten Plan folgen. Die 50 Gineitis, „Jvadas", op. du, S. 14. Mehr dazu: Seferis, „Kristijono Donelaicio Metu kompozicijos problemos", op. cit., S. 46-49. 51 In der litauischen Ausgabe der Werke von Donelaitis aus dem Jahr 1979 versucht man, eine wie oben angedeutete Verwirrung bezüglich der „Biographie" von Krizas mithilfe einer eigenartigen rhetorischen Äquilibristik zu umgehen, indem man den Eigennamen Krizas als eine allgemeine Bezeichnung für „Bauer" interpretiert (Donelaitis, Rastai, S. 356, 385-386). Mehr dazu: Seferis, Kristijono Donelaicio „Metu" rislumas, op. cit., S. 238-243. 52 Vgl. Kessler, op. cit., S. 242. 268 269 Annaberger Annalen 23/2015 Annaberger Annalen 23/2015 Kohärenz des Werkes stützt sich auf die Stabilität der paradigmatischen Struktur. Auf dieser Erzählebene wird Metai durch gut erkennbare Isotopien (wie z. B. Gottesfurcht, Bescheidenheit, Arbeitseifer, Mäßigung und Gerechtigkeit) zusammengehalten. Sie treten an verschiedenen Erzählstellen in unterschiedlichen Konstellationen und mit variierender Intensität auf und bleiben trotzdem stets auf der Gesamtpartitur der Narration präsent. Betrachten wir die dargestellte Welt von Metai mit maximalem analytischen Abstand, wird klar, dass diese Welt strikt hierarchisch organisiert ist: Das semantische Universum dieses Werkes kreist stets um die vertikal orientierte Spannungsachse zwischen Tugendhaftigkeit und Unsittlichkeit. Dies sind die zwei grundlegenden Makroisotopien von Metai, von denen ein ganzes Netz kleinerer Meso- und Mikroisotopien abzuleiten ist. Die Kohärenz der syntagmatischen Ebene ist in Metai dagegen relativ schwach ausgeprägt und basiert auf den Regeln des gesprochenen Diskurses, wobei die syntagmatische Anknüpfung durch Kontrast (positiv - negativ), assoziative Verbindung (A—>B II B—>C) oder Illustration (Feuergefahr —> Brand) gewährleistet ist. Auf den unteren Kompositionsebenen gestaltet Donelaitis die Erzählung nach präzisen Aufbaugrundsätzen, auf den oberen Kompositionsebenen, die den Zusammenhang zwischen den Blöcken und der Makrokomposition von Metai konstituieren, lässt jedoch seine Kontrolle nach: Innerhalb der vier Gedichtteile folgen einander die großen Erzählblöcke ohne einen erkennbaren syntagmatischen Plan (wobei Natur- und Arbeitsprozesse hier keine strukturierende Rolle spielen). Auf der makrokompositionellen Ebene können wir mit Gewissheit eine Verbundenheit der vier Teile untereinander feststellen und somit Metai als eine literarische Einheit betrachten. Der kompositioneile Charakter einer solchen Einheit ist aber sehr allgemein: Die Idee, einen vollen Kalenderzyklus zu komponieren (und nicht nur einzelne Bilder), kann nur als ein Vorhaben von Donelaitis bezeichnet werden, kaum aber als eine durchdachte Komposition. Spezifisch für die Erzählung in Metai ist ihre zyklische Dynamik. Metai ist ein dichterischer Zyklus ohne festen Anfang und Ende: Eine in unterschiedlichen Variationen ausgeführte Wiederholung dessen, was grundlegend ist, eine endlose Erzählung über diejenigen Dinge, die Donelaitis am wichtigsten erschienen. Lektorin Silke Brohm Überlegungen zu Existenz und Aufbau der Hausbibliothek von Kristijonas Donelaitis Dornas Kaunas Gegenstand dieser Untersuchung ist die Hausbibliothek des litauischen Nationaldichters Kristijonas Donelaitis. Ihre Existenz ist nicht bewiesen, deshalb bewegen wir uns hier lediglich im Rahmen einer Prämisse. Dieser Zustand hat einige Gründe, von denen die wichtigsten sind: 1) Donelaitis wurde vor allem von Philologen erforscht (als Literaturklassiker); 2) der Beitrag der Historiker und Informations- und Kommunikationsforscher, besonders auf dem Gebiet der Kultur-, Kirchen- und Wirtschaftsgeschichte, ist eher gering; 3) das Quellenmaterial reicht für die Forschungen nicht aus. Daher ist gegenwärtig eine Erfolg versprechende Untersuchung nicht zu erwarten. Um Erfolg zu haben ist es unabdingbar, die Summe der Erkenntnisse zu erweitern und zu erneuern, ihre Vielfalt zu vergrößern und die bisher von den Donelaitisforschern verwendeten Quellen mit neuen Methoden zeitgemäß und kritischer zu bewerten. Der größere Teil der Quellen existiert noch. Den Beginn der Quellenforschung über Donelaitis markieren Martin Ludwig Rhesa, der erste Herausgeber von „Das Jahr in vier Gesängen" (1818), und die ersten beiden Erforscher des Pfarrarchivs von Tollmingkehmen, der ostpreußische Jurist und Verfasser zahlreicher Reisebeschreibungen Ludwig Louis Passarge (seine wichtigsten Werke erschienen 1878 und 1894) und der Leipziger Germanist Franz Oskar Tetzner (seine wichtigsten Veröffentlichungen erschienen in der Zeit von 1895-1917). Ihre in populären und wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichten Beiträge bewogen die Heimatforscher dieser Region, sich mit Donelaitis zu beschäftigen. Der Jurist Alexander Horn aus Insterburg verfasste 1893 die erste ausführlichere Biographie von Donelaitis in der „Insterburger Zeitung", die bald auch als Broschüre erschien, und Carl Wilhelm Hugo Freyberg, der seit 1886 als Pfarrer in Tollmingkehmen wirkte, verfasste 1898 die Geschichte der Pfarrei Tollmingkehmen, in der er auch die Bedeutung seines Vorgängers Donelaitis recht ausführlich beschrieb. Alle diese Forschungsergebnisse, die eine große Hilfe für die Ermittlungen über das Leben, die Wirkung und die Hausbibliothek von Donelaitis bieten, findet man gesammelt und mit ausführlichen Kommentaren versehen in der wissenschaftlichen Werkausgabe von Donelaitis1 und in der von Leonas Gineitis herausge- 1 Donelaitis, Kristijonas: Rastai (Werke). Redaktion: Kostas Korsakas (u.a.). Vilnius: Vaga 1977. 599 S„ III. - Zitiert als: Rastai. 270 271