1 Unbeantwortbare Fragen Jakub Mácha, Masaryk University Brno, Tschechien, macha@mail.muni.cz Ein Vortrag im Rahmen des Dritten Festivals der Philosophie in Hannover, am 12. April 2012 Abstrakt: Kants Kritik der reinen Vernunft beginnt mit der Feststellung, es gebe Fragen in der Natur unserer Vernunft, die sie zwar nicht abweisen aber auch nicht beantworten kann. Eine Diagnose folgt sogleich: Diese Fragen übersteigen alles Vermögen der Vernunft. Kant schlägt eine radikale Behandlung vor: Die Vernunft muss in Grenzen der möglichen Erfahrung eingeschlossen werden. Das heißt für ihn jedoch, dass jene unbeantwortbaren Fragen keineswegs aufhören, die Vernunft zu belästigen. Auch Wittgenstein bekennt, dass unsere Vernunft Fragen erkennen kann, nicht aber deren Antworten. Das Ziel seiner Philosophie ist jedoch, den Menschen von diesen Fragen zu befreien, indem er sich in die Regeln des Sprachgebrauchs auskennt. Sehr geehrte Damen und Herren, es ist für mich eine große Ehre, hier in Hannover auf dem Festival der Philosophie auftreten zu dürfen. Es ist eine Ehre vor allem darum, weil ich an der Leibniz Universität unter Herrn Nickl studierte. Das Thema meines Vortrags – eher eine kurze Bemerkung – ist eine Eigentümlichkeit der menschlichen Vernunft, und zwar ihre Neigung, Fragen zu stellen und nach Antworten streben. An den Anfang der Philosophie oder besser des Philosophierens setzt Aristoteles das Staunen (thaumázein). Aber das Staunen wird zur Philosophie nur, wenn dieses Gefühl, dieses Streben nach Wissen in die Sprache verlegt wird. Nun, das Staunen spiegelt sich in der Sprache als Frage oder Fragenstellung. Wenn die Philosophie – wiederum nach Aristoteles – ein Ausdruck menschlichen Strebens nach Wissen wäre, dann wäre ihre eigentliche Aufgabe, Fragen zu stellen und Antworten zu erstreben. Es ist eine populäre Meinung, dass es zu jeder Frage eine (richtige) Antwort gibt oder geben muss. Stellt man sich zum Beispiel die Fragen vor, ob es einen Gott gebe oder die Seele unsterblich sei, so liegt nahe, dass es eine und nur eine richtige Antwort gibt. Aus dem logischen Gesetz vom ausgeschlossen Dritten folgt, dass es Gott entweder gibt oder nicht gibt, die Seele entweder sterblich oder unsterblich ist. Wittgenstein sagt gegen Ende seines Tractatus: „Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.“ (6.51) So weit, so gut. 2 Es kann jedoch ungeheuer kompliziert sein, die richtige Antwort zu finden und sie als richtig zu begründen. Die Philosophie (im Gegensatz zur Religion) findet sich mit bloßen Antworten nicht ab. Sie braucht richtige und als richtig begründete Antworten. Obwohl wir bezüglich der Natur der menschlichen Vernunft alles zugeben würden, was bisher gesagt worden ist, steht doch immer noch aus, ob die Vernunft fähig ist, alle diese Fragen richtig und begründet beantworten zu können. Der Auftakt zu Kants Kritik der reinen Vernunft ist wohlbekannt. Er schreibt in der Vorrede zur ersten Auflage: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (A VII) Die herkömmliche Metaphysik war nach Kant in der Täuschung befangen, dass die menschliche Vernunft jede Frage richtig und begründet beantworten könne. Kants Ziel ist zu argumentieren, dass es sich um Fragen handele, die das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigen und die daher nur teilweise oder sogar gar nicht beantwortet werden können. Kant schlägt eine radikale Behandlung vor: Die Vernunft muss in die Grenzen möglicher Erfahrung eingeschlossen werden. So können Gott oder die unsterbliche Seele in der Erfahrungswelt nicht erkannt, sondern nur gedacht werden als notwendige Ideen, die unser praktisches Wissen, unser Handeln regulieren und dadurch verwirklicht werden können. Heißt das jedoch, dass jene unbeantwortbaren Fragen keineswegs aufhören, die Vernunft zu belästigen? Kants Lösung besteht darin, ein aussichtsloses Streben nach richtigen Antworten abzubauen, aber nicht die Fragen selbst, die den Ausdruck eines ursprünglichen Staunens darstellen, denn sie sind in der Natur menschlicher Vernunft verankert. Nunmehr sind wir mit Kant zu der Feststellung gekommen, dass es für uns Menschen unbeantwortbare Fragen gebe. Es gibt Fragen, die einerseits von der Philosophie formuliert, andererseits mittels philosophischer Methoden nicht beantwortet werden können. Diese Fragen jedoch belasten nach Kant die menschliche Vernunft. Einige Philosophien haben sich Gedanken gemacht, ob es möglich wäre, die Vernunft von diesen Fragen zu befreien – wenn schon die bloße Feststellung, dass wir nie die endgültigen Antworten finden, nicht hilft. Ludwig Wittgenstein macht eine solche Befreiung, die Ruhe bringt, zum eigentlichen Ziel der Philosophie. Er schreibt in seinen Philosophischen Untersuchungen: „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen. […] Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es 3 Methoden, gleichsam verschiede Theorien.“ (§ 133) Wittgenstein wollte die Philosophie als Therapie sehen, die den Menschen von Fragen heilen sollte, die ihn belästigen. Worin bestehen Methoden der Philosophie? Wittgenstein war der Meinung, alle philosophischen Probleme stammen aus einem falschen Gebrauch der Sprache. Der Fehler liegt schon darin, das Gefühl des Staunens in der Sprache auszudrücken zu versuchen. Wenn man Wittgensteins vorgeschlagene Methoden resümieren kann, so bestehen sie darin, an Reihen von relativ einfachen Beispielen zu zeigen, dass ein Fehler schon in der Frage liegt, d. h. dass selbst schon die Frage keinen Sinn hat. Nehmen wir uns zum Beispiel Wittgensteins Behandlung der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele vor. Auch wenn wir diese Frage bejahend beantworten würden, wird dadurch kein Rätsel gelöst. „Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige?“ (Prototractatus, 6.4423) Eine Beantwortung dieser Frage bringt keine Ruhe. Wittgenstein zeigt dann, dass schon das Wort „Seele“ einen inneren Widerspruch enthält. Die Seele muss irgendwie körperlich sein, wenn sie im Körper verweilt und den Körper verlassen kann. Das ist für Wittgenstein eine Bemerkung zur Grammatik des Wortes „verlassen“. Die Seele muss jedoch auch unkörperlich oder unräumlich sein, wenn sie die Zerlegung des Körpers überleben soll. Wittgensteins Schlussfolgerung: „Zeige mir wie Du das Wort ‚seelisch‘ gebrauchst, und ich werde sehen, ob die Seele ‚unkörperlich‘ ist.“ (Ms 110, S. 204) Wenn ich meinen kurzen Vortrag zusammenfassen darf, so haben wir gesehen, dass die Geschichte der menschlichen Vernunft sich in einem gewissen Kreis bewegt. Am Anfang haben sich Leute über allerlei Dinge erstaunt. Um dieses Staunen philosophisch zu reflektieren, müsste man sie in Form von Fragen in die Sprache versetzen. Später ist man zu der Feststellung gekommen, dass einige von diesen Fragen unbeantwortbar sind, weil die menschliche Vernunft ein begrenztes Erkenntnisvermögen hat. Und noch später machte man die Entdeckung, dass es nicht die Vernunft, sondern ein falscher Gebrauch der Sprache ist, in dem der Fehler liegt. Die Philosophie hat damit wieder ihren Ausgangspunkt erreicht. Es bleibt nur ein unbestimmtes Gefühl, das sich in der Sprache nicht ausdrücken lässt. Ist nicht dies die einzige mögliche Erfahrung oder Entdeckung der Vernunft? Vielen Dank, dass Sie die Geduld hatten, meinen Vortrag bis zum Ende anzuhören.